Schwere Wetter
geschlossene ehemalige
Kaufhaus. Der verlassene Eingang wirkte ebenso öde wie trostlos. Ein paar
Schritte weiter konnte Lüder durch eine Altstadtgasse einen Blick auf die
Marienkirche werfen, bevor er den Torbogen des Alten Rathauses durchschritt und
in den Bereich der Fußgängerzone überwechselte, wo sich kleine Geschäfte dicht
aneinanderreihten.
Von hier zweigte
ein unscheinbarer Eingang in die Altstadt-Passage ab, einen gelungen bebauten
Hinterhof, der in seiner fast schrill wirkenden Buntheit mit den Säulen und der
Galerie auf den ersten Blick an New Orleans erinnerte.
Ein großes Schild
wies den Weg »Zu den Praxen«. Einer der Anbieter war Dr. Wu Cheng Jie.
»Heilpraktiker, traditionelle chinesische Medizin, Akupunktur«, las Lüder.
Darunter waren die Sprechzeiten angegeben.
Er wurde von einer
älteren Frau empfangen, die mit ihren zu einem Dutt geknoteten grauen Haaren
einen resoluten Eindruck machte.
»Haben Sie einen
Termin?«, fragte sie.
»Ich bekomme
einen, auch ohne Voranmeldung«, erwiderte Lüder in barschem Ton, der die Frau
aufhorchen ließ. »Ich bin nicht als Patient hier, sondern möchte Herrn Wu
privat sprechen.«
» Dr. Wu«, betonte die Frau. »Ich weiß nicht, ob das möglich
ist.«
»Dann finden Sie
es bitte heraus.«
Lüder sah sich um.
Der Wartebereich war leer. An der Garderobe hing keine Kleidung, im
Schirmständer fand sich kein Regenschutz. Es sah nicht so aus, als wäre der
Heilpraktiker im Augenblick überlastet.
Die Frau schenkte
ihm einen bösen Blick.
»Nehmen Sie
Platz«, sagte sie unfreundlich und griff zum Telefon. Sie sprach so leise, dass
Lüder es nicht verstehen konnte. Dann rief sie ihm zu: »Ihr Name?«
»Lüders,
Landeskriminalamt«, sagte er laut.
Sie wiederholte es
und sah Lüder dabei kritisch an. Anschließend stand sie auf und sagte: »Kommen
Sie.«
»Bitte!«, ergänzte
Lüder, erhielt als Antwort aber nur einen weiteren unfreundlichen Blick.
Das
Behandlungszimmer war überraschend nüchtern eingerichtet. Der Schreibtisch, der
bequeme Stuhl davor, das Sideboard und der Schrank mit den Glastüren, hinter
denen sich Medikamente und Glasfläschchen verbargen, waren in einem hellen
Birkenholz gehalten. Auch ein Heilpraktiker, der sich zu natürlichen
Heilmethoden bekannte, verzichtete nicht auf eine moderne Infrastruktur,
stellte Lüder fest, als er den großen Monitor und die kabellose Tastatur mit
Maus entdeckte. Eine Behandlungsliege vervollständigte die Einrichtung, wenn
man von einer großen Schautafel absah, die einen Menschen mit seinen Organen
und dem Kreislaufsystem zeigte. Daneben waren die Extremitäten und ein
überdimensioniertes Ohr abgebildet. Hier wiesen Texte auf einzelne Punkte hin.
Lüder vermutete, dass es sich um Akupunkturpunkte handelte.
Der Heilpraktiker
war ein kleiner älterer Herr mit einem runden Kopf und akkurat gescheiteltem
grauen Haar. Er erhob sich von seinem Schreibtisch und reichte Lüder die Hand.
»Ich bin Dr. Wu«,
sagte er. Dabei zeigte er ein freundliches Lächeln.
»Dr. Lüders«,
antwortete Lüder und spielte mit seinem akademischen Grad, da sein Gegenüber
den »Doktor« ebenfalls deutlich betont hatte.
»Doktor?«, fragte
der Heilpraktiker prompt.
»Ja«, bestätigte
Lüder und verzichtete auf den Zusatz »jur.«.
Dr. Wu setzte sich
wieder hinter den Schreibtisch.
»Ich komme vom
Landeskriminalamt. Wir untersuchen den Todesfall eines Studenten und sind uns
nicht sicher, ob es ein Unfall oder Selbstmord war«, log Lüder. »Da es sich um
einen ausländischen jungen Mann handelt, der keine Angehörigen in Deutschland
hat und sich zudem noch nicht lange hier aufhielt, müssen wir versuchen, etwas
über seinen Umgang und seine Gepflogenheiten herauszufinden.«
Dr. Wu lächelte.
»Ich bin
Mediziner«, sagte er. »Ich weiß, dass man sehr einfach feststellen kann, ob es
ein Suizid war.«
»Verstehen Sie als
Heilpraktiker etwas von der Rechtsmedizin?«, fragte Lüder und versuchte,
überrascht zu klingen.
»Ich habe in China
an der Universität Harbin Medizin studiert. Wissen Sie, wo Harbin ist?«
Lüder nickte. »Ja,
das ist eine Millionenstadt im Nordosten. Provinzhauptstadt. Wenn ich mich
nicht irre, fast so groß wie Berlin.«
Dr. Wu schenkte
ihm ein anerkennendes Kopfnicken. »Ich bin erstaunt. Es gibt kaum einen
Europäer, der – außer Vorurteilen – etwas von meiner Heimat weiß.«
»Ihr
Medizinstudium wurde in Deutschland nicht anerkannt?«, fragte Lüder.
Ohne die Miene
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