Schwere Wetter
zu
verziehen, antwortete Dr. Wu. »Man versteht hier nicht, auf welcher
ganzheitlichen Basis bei uns Medizin gelehrt wird. Sie müssen aber nicht
glauben, dass wir deshalb nicht die moderne westliche Medizin beherrschen.
China hat in wenigen Jahrzehnten auf fast allen Gebieten unglaublich viel
aufgeholt.«
»Das mag sein.
Weshalb praktizieren Sie in Deutschland, dann auch noch in der Provinz, als
Heilpraktiker?«
»Das hat
politische Gründe. Ich bin optimistisch, dass der wirtschaftlichen Freiheit
auch die geistige folgt und ich mit meiner Familie irgendwann wieder in meine
Heimat zurückkann.«
»Sind Sie
politisch verfolgt worden?«
»Dazu möchte ich
nichts mehr sagen. Ich bin dankbar, dass ich zumindest vorübergehend hier leben
und arbeiten darf. Aus allen politischen Aktivitäten halte ich mich heraus.«
Das hatte Lüder
schon öfter gehört. Menschen aus Ländern, in denen die Meinungsfreiheit
beschränkt wurde, hielten sich aus Angst vor Repressalien gegenüber
daheimgebliebenen Angehörigen mit Kommentaren zurück.
»Sie sind mit
Ihrer Familie nach Deutschland gekommen?«
»Mit meinem Sohn.
Meine Frau steht der Partei sehr nahe. Sie wollte in China bleiben.«
»Ihr Sohn Tian hat
in Deutschland studiert?«
»Er ist tüchtig.
Leider interessiert er sich nicht für Medizin. Aus ihm wäre sicher ein guter
Arzt geworden. Aber seine Neigungen liegen woanders. Er hat sich für die
moderne Welt entschieden.« Dr. Wu zeigte auf den Bildschirm. »Das hier, das hat
er mir eingerichtet. Ich verstehe nicht viel davon. Aber es reicht, um meine
Patientendaten zu pflegen.«
»Sind die
vertraulichen Daten dort sicher?«, fragte Lüder. Er wollte ausloten, was sein
Gegenüber zum Thema Datenschutz wusste.
»Doch, ja«,
antwortete Dr. Wu. »Ich lasse niemanden an den Computer. Nur meine
Sprechstundenhilfe. Aber auf Helga ist Verlass.«
»Ist Ihr Sohn auch
politisch verfolgt worden?«
»Ich bin diesem
Land gegenüber dankbar. Mein Sohn durfte hier Abitur machen und studieren. Er
fühlt sich heimisch. Ich fürchte, es wird schwierig werden, wenn die Frage
ansteht, ob wir nach China zurückkehren. Aber vorerst zeichnet es sich noch
nicht ab. Dazu müsste sich noch Grundlegendes ändern.«
»Ihr Sohn hat
jetzt einen Arbeitsplatz bekommen.«
»Er hat eine gut
dotierte Stelle in einem Unternehmen in Büdelsdorf. Fragen Sie mich nicht, was
er dort genau macht. Er hat oft versucht, es mir zu erklären. Ich habe es nicht
verstanden. Meine Welt ist diese hier.«
»Hat Tian manchmal
Namen genannt? Von Kommilitonen? Hat er Freunde mit nach Hause gebracht?«
»Nein, darüber
haben wir nicht gesprochen. Früher, als er noch das Gymnasium besucht hat,
waren manchmal Mitschüler da. Ich erinnere mich an Alexander, aber der ist nach
Mannheim gegangen. Er studiert Volkswirtschaft. Ich glaube, der Kontakt ist
abgerissen.«
»Mich
interessiert, ob Ihr Sohn etwas von einem Amerikaner erzählt hat.«
Dr. Wu schüttelte
den Kopf. Es war erstaunlich, dass Lüder aus der Miene seines Gegenübers keine
Gemütsregung herauslesen konnte. Der Heilpraktiker zog weder die Stirn kraus,
noch bewegte er die Augenbrauen.
»Das weiß ich
nicht. Davon hat er nie gesprochen. Die jungen Leute machen heute so viele
Bekanntschaften. Da habe ich den Überblick verloren. Es tut mir leid, wenn ich
Ihnen nicht weiterhelfen konnte. Aber ich kann nicht viel zu den Freunden
meines Sohnes sagen. Es ist schwer für einen Vater, wenn er in einer anderen
Welt lebt als der Sohn. Ich bin glücklich, Menschen helfen zu können, auch wenn
die uralten Methoden der chinesischen Medizin in Deutschland nicht anerkannt
sind und belächelt werden.«
Für einen kurzen
Moment schweiften Lüders Gedanken ab und folgten den Worten seines Gegenübers.
Es war sicher überlegenswert, ob die ganzheitliche Betrachtung des Menschen
nicht auch ihre Vorteile hatte. Der gute alte Hausarzt hatte schließlich auch
nach diesen Prinzipien seine Patienten behandelt. Lüder selbst tendierte aber
zur modernen Hochleistungsmedizin, die mit Apparaten und innovativen
Medikamenten sowie neuen Techniken einen unglaublichen Fortschritt gebracht
hatte.
Der Heilpraktiker
stand auf und verneigte sich leicht vor Lüder, ohne ihm die Hand zu reichen.
»Was auch immer
Ihre Nachforschungen für Ergebnisse bringen, ob es ein Unfall war oder ein
Selbstmord, möge die Seele des Jungen ihren Frieden finden.«
Lüder war ein
wenig enttäuscht, als er wieder auf der Straße stand. Das
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