Schwerelos
aufBaumkuchenspitzen in Vollmilchschokolade bin. Das bin ich immer und zuverlässig.
Mein Selbstbewusstsein hingegen ist keine sichere Bank und hält wichtige Verabredungen mit mir nur gelegentlich ein. Es ist möglich, dass es mich in sehr ungünstigen Momenten spontan verlässt. Dann wieder überrascht es mich, weil es mir tapfer zur Seite steht, wenn ich es wirklich dringend brauche. Aber ich kann mich nicht darauf verlassen, selbstbewusst zu sein.
Es ist so, dass mich bereits grausame Taxifahrer und gemeine Supermarktkassiererinnen zur Verzweiflung bringen können. Und auch fiese, falsche Komplimente kränken mich nach wie vor. «Ich freu mich über deinen Erfolg, egal was alle anderen sagen» oder «Das Kleid steht dir hervorragend, es ist ja auch nicht so figurbetont» oder «Ich habe dir eine Flasche Wein mitgebracht, leider gab es keinen, der so alt ist wie du».
Völlig klar, dass ich nach solchen Äußerungen überlege, mir ein Abo beim Tiefenpsychologen zu besorgen.
Aber es ist besser geworden, stelle ich fest. Mit der Zeit, mit dem Alter, mit dem Erfolg und der richtigen Foundation ist mein Selbstbewusstsein ein relativ treuer Begleiter geworden.
Schwierig wird es jedoch zuverlässig immer dann, wenn ich auf Menschen treffe, für die ich immer noch ganz die Alte bin. Mein Vater, mein ältester Bruder, einige Tanten und Onkel und ein paar alte Bekannte aus Wiesbaden: Sie alle können sich nicht daran gewöhnen, dass ich keine Spange mehr trage, dass es keinen Grund mehr gibt, sich über mich lustig zu machen, über mich hinwegzusehen oder aus Mitleid nett zu mir zu sein.
Ich wusste, dass mein Klassentreffen in dieser Hinsicht für mich eine schwere Prüfung sein würde. Ich hatte fast alle meiner ehemaligen Mitschüler seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Und, ganz ehrlich, ich brannte darauf, ihnen zu zeigen, was aus mir geworden war: Bestseller-Macherin in der Großstadt Hamburg in einem Kleid von Marc Jacobs, eine Frau mit geraden Zähnen und so gut wie verheiratet. Ich war sicher, damit ziemlichen Eindruck zu schinden. Ich wollte in aufgerissene Augen und sprachlose Münder blicken. Ich wollte die Schönheiten von damals bei meinem Anblick schockiert im Boden versinken sehen, und ich wollte, dass sich die Männer wie Fruchtfliegen um mich scharten.
Das Klassentreffen fand kurz vor Weihnachten statt. Im Taxi hatte ich noch ein paar Atemübungen gemacht, mir ein fabelhaftes Make-up und ein unverwüstliches Selbstbewusstsein attestiert und den Sitz meines wirklich außergewöhnlich schönen Kleides überprüft.
Ich betrat meine alte Schule hocherhobenen Hauptes. Mein Schritt war fest, mein Mut entschlossen. Hier kam Rosemarie Goldhausen!
Nach wenigen Minuten war ich ein Niemand.
«Ich erinnere mich nicht an dich.»
Er betrachtete mich vorwurfsvoll, als sei es meine Schuld, dass er mich vergessen hat. Ich starrte ihn an und war sicher, dass mein Gesicht desolat und leer aussah.
Er warf seine Stirn in angestrengte Falten und neigte sich vor. Warum tat er das? Glaubte er, mich anhand einer genauen Hautanalyse doch noch identifizieren zu können? Wollte er eine Haarprobe nehmen? Er begutachtete mich wie ein übellauniger Gerichtsmediziner eine dringende Leiche,die ihm fünf Minuten vor Dienstschluss auf den Tisch gepackt wurde.
Nun gut, ich muss zugeben, dass ich selber nicht über das allerbeste Personengedächtnis verfüge. Ich ordne Leuten falsche Namen zu, falsche Berufe, falsche Ehepartner oder eine unkorrekte Anzahl Kinder. Eine Spezialität von mir ist es, unglücklichen Singles nachträglich zur Hochzeit zu gratulieren oder Frauen deutlich jenseits der Menopause zum Nachwuchs.
Auch wenn so die eine oder andere beklemmende Situation entstanden ist: Total vergessen habe ich noch niemanden. Das ist nämlich auch das Schlimmste, was man jemandem antun kann, finde ich. Und echt toll auch, dass das Schlimmste ausgerechnet mir passieren musste, bevor ich ein einziges Glas Sekt getrunken und ein bisschen Ego-Substanz aufgebaut hatte.
Ich schämte mich. Und das Blöde dabei war, ich schämte mich nicht für den Typen, weil er mich vergessen hatte. Nein, natürlich nicht, da halte ich es ganz mit dem mir teuren Frauenklischee: Immer erst mal den Fehler bei sich selbst vermuten. Vorausgesetzt, der derzeitige Lebenspartner ist nicht anwesend. Der hat natürlich bei der Schuldfrage immer erst mal Vorrang.
Nein, ich schämte mich selbstverständlich für mich, weil ich es nicht geschafft
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