Schwerelos
Auffälliges. Alles an mir hätte als Schulnote eine «Drei» bekommen. Befriedigend, weder gut noch schlecht. Ich war das Mittelmaß in Person, und wenn von mir die Rede war, hieß es immer achselzuckend «geht so» oder «einigermaßen».
Ich trat noch einen Schritt weiter zurück in die Untiefen des Geräteraums. Als Zuschauerin fühlte ich mich an diesem Abend sicherer. Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren hatte ich wieder das Gefühl, eine Spange, Jungensandalen und unsägliche Zöpfe zu tragen. Bei drei Brüdern, mit denen du dir die Klamotten teilen musst, solltest du wenigstens lange Haare haben, dachte ich damals. Wie zwei Spülbürsten standen mir die geflochtenen Borsten vom Kopf ab. Erst 1992 entschloss ich mich aus Schadensbegrenzung zu kurzen Haaren, was wesentlich zu meinem späten Erblühen und der Freilegung meines Selbstwertgefühls beitrug.
Ach ja, mein Selbstwertgefühl, wo war das noch gleich geblieben?
Werner Degenhardt drückte mein Bier Corinna in die Hand und berührte sie dabei auf eine Weise, die mir selbstaus der Entfernung anzüglich erschien. Im Landschulheim in Trier haben die beiden im unteren Stock eines Etagenbettes rumgemacht. Und wer hat im Dunkeln oben gelegen und die Hände auf die Ohren gepresst? Ich denke, die Frage beantwortet sich von selbst.
Corinna warf den Kopf in den Nacken und drückte ihr Kreuz durch – und ich registrierte schadenfroh, dass der Vorteil von großen Brüsten ganz eindeutig auf das erste Lebensdrittel begrenzt ist.
«Wie bitte? Frau Goldhausen, ich kann Sie kaum verstehen!»
«Entschuldigen Sie, Herr Conradi, aber es passt gerade nicht so gut. Ich will nicht so rumbrüllen, hier sind überall Leute.»
«Wenn ich Sie richtig verstanden habe, stehen Sie also im Abendkleid in einem unbelüfteten Geräteschuppen und trauen sich nicht raus?»
«Nun ja, das ist jetzt sehr negativ formuliert. Manchmal ist es eben schöner, Beobachter als Teilnehmer zu sein. Ich dachte, ich schaue mir das Geschehen lieber eine Weile aus sicherer Entfernung an.»
«Die Entfernung ist nicht sicher. Sie sind feige. So einfach ist das.»
«Herr Conradi, bei allem Respekt, aber das Leben funktioniert nun mal nicht immer so, wie die Ratgeberliteratur es gerne hätte.»
«Frau Goldhausen, kennen Sie jemanden, der das besser wüsste als ich?»
Michael Conradi hatte mich auf meinem Handy angerufen, und natürlich war ich rangegangen. Wenn du einen Bestsellerautor betreust, der gerade ein neues Buch schreibt, ist das im Grunde so, als wärst du Mutter von weinerlichen und schwererziehbaren Drillingen, die alle finden, dass sie zu wenig Aufmerksamkeit bekommen, und deswegen ab und zu den Kindergarten zerlegen.
Du rechnest immer mit dem Schlimmsten, wenn das Telefon klingelt, aber diesmal war Conradi so verblüfft, ausnahmsweise mal mich in einem desolaten Zustand anzutreffen, dass er zunächst völlig vergaß, seine eigenen Probleme aufzuzählen.
Wir haben inzwischen eine innige Beziehung. Wir verdanken uns gegenseitig viel, wir mögen uns, und er hat beschlossen, mich zu seiner engsten Vertrauten und heimlichen Beraterin zu machen.
Wir telefonieren mindestens zweimal am Tag, und wenn er fragt: «Wie geht es Ihnen?», sage ich: «Danke gut.» Wenn ich ihn das Gleiche frage, dauert seine Antwort mindestens fünf Minuten, und immer kommt irgendein körperliches Unwohlsein vor, außerdem Sorgen wegen seiner familiären Situation und die panische Gewissheit, dass es ihm niemals wieder gelingen wird, ein ähnlich erfolgreiches Buch wie «Hauptsache Liebe?» abzuliefern. Schreiben könne er ja sowieso nicht und er überlege, alles hinzuschmeißen, ehe er sich bis auf die Knochen blamiere.
Ich weiß alles über Michael Conradi. Und er weiß das über mich, was ich ihm erzählen kann, wenn er gerade den Mund voll hat. Wenn er nicht selber sprechen kann, ist er ein guter Zuhörer und manchmal, wenn er sich die Mühe macht, auch ein intelligenter Ratgeber.
Das klingt unausgeglichen und ungerecht. Ist es auch. Aber es stört mich nicht, weil ich es nicht anders kenne. Ich war nie die Hauptperson bei irgendwas. Beim Krippenspiel im Kindergarten war immer ich der Esel. Ich war nie Klassensprecher, immer nur Kassenwart. Um mich hat sich niemand auf dem Schulhof geprügelt.
Ich bin es absolut gewohnt, dass immer etwas anderes wichtiger ist als ich. Und ich nehme das niemandem übel. Ich bin die perfekte Arbeitnehmerin und eine Frau zum Heiraten. Ich drehe nicht durch, wenn man
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