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Schwerelos

Schwerelos

Titel: Schwerelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ildikó von Kürthy
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Flittchen-Fricke, die alte Schlampe, verbreitete schadenfroh in der ganzen Schule, Küppi Kanak sei vor Entsetzen ohnmächtig geworden, als ich ihn ohne Vorwarnung hätte küssen wollen, und nannte ihn fortan nur noch «Küppi Kollaps».
    Küppi und ich haben nie ein Wort über diesen Vorfall verloren, aber die gemeinsam durchlittene Demütigung schweißte uns noch fester zusammen.
    Ich habe seit Ewigkeiten nicht an ihn gedacht, meinen kleinen, kugeligen, bebrillten Freund mit den riesigsten blauen Murmelaugen, die ich jemals gesehen habe. Seinen Vornamen habe ich vergessen, aber ich weiß noch, dass «Küppi» aus «Küppers» entstanden ist. «Kanak» verdankte er einem türkischen Elternteil, der ihm einen dunklen Teint, pechschwarzes Haar und orientalische Rundlichkeit vermacht hatte.
    Als er fünfzehn geworden war, ließen sich seine Eltern scheiden, und er ist mit seiner Mutter aus Wiesbaden weggezogen. Ich habe nie wieder von ihm gehört, und auf der Teilnehmerliste des Klassentreffens stand leider kein Küppers.
    Ach, Mensch, ist das alles lange her. Auf einmal bist du jemand, der, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Satz beginnt mit «Vor zwanzig Jahren   …». Und dann erzählst du nicht etwa von einem historischen Ereignis aus einer nebulösen Vergangenheit, die nicht deine ist. Nein, dein eigenes Leben ist mittlerweile so abartig lang, dass du genau weißt, wie es war, als es noch keine Handys gab, dafür aber eine Mauer durch Berlin. Dienstags um Viertel vor zehn ging kein dir bekannter Mensch aus dem Haus, weil «Dallas» lief. «Er nährung » hieß noch «Essen», und Pilates hättest du für eine katalanische Vorspeise gehalten, vielleicht so etwas Ähnliches wie Pflaumen im Speckmantel. Und die hießen damals «Häppchen vorweg» und keinesfalls «Fingerfood».
    Dein eigenes Leben ist streckenweise echt schon verdammt lange her, und wo sollte dir das bewusster werden als auf einem Klassentreffen? Wo Frauen, die doch eben erst zu «Words don’t come easy» von F.   R.   David zum ersten Mal getanzt haben, dich mit der Frage begrüßen: «Und wie viele hast du?», und ein Foto von vier in pädagogisch sinnvollen Abständen gezeugten Kindern zücken.
    Ich hatte mich in den Geräteraum zurückgezogen, um zu schauen, ob sich mein Selbstwertgefühl vielleicht zwischen den Turnmatten versteckt hatte. Alles war unverändert, als sei keine Zeit vergangen. Selbst die Taue, an denen ich vor einem Vierteljahrhundert wie ein klebriger Drops gebaumelt habe, waren noch an derselben Stelle.
    Fast alle Ehemaligen waren inzwischen eingetroffen. Trotz gewachsener Bäuche, entfallener Haare und runzliger Hälse erkannte ich jeden sofort. Ich hatte keinen vergessen. Es war, als hätte ich mich nur einmal kurz umgedreht.
    Sascha, unseren Klassensprecher, erkannte ich an seinem Lachen, ohne ihn zu sehen. Und natürlich war es Tine, die mit einer Runde Männer balzte. Und ich wusste auch noch genau, dass Norbert beim Pogo von der Tanzfläche geschubst wurde und sein Ringfinger dabei zu Bruch ging. Und ich wusste, zu welchem Lied das geschah und wie der Text ging:
     
    Die kleinen Mädchen aus der Vorstadt
    tragen heute Nasenringe aus Phosphor.
    Die Lippen sind blau, die Haare grün,
    Streichholzetiketten am Ohr.
    Aus den Jackentaschen ragen braune Flaschen,
    so sieht man sie durch die Straßen ziehn,
    überall wo sie vorübergehn,
    hängt in der Luft ein Hauch von Benzin.
     
    Das ist neu, das ist neu!
    Hurra, hurra, die Schule brennt!
     
    Ist schon irre, womit man sein Gedächtnis in knapp vierzig Jahren zumüllt. Und schade, dass in meinem deswegen kein Platz mehr ist für Pin-Nummern und Abgabetermine.
    Ich sah Werner Degenhardt mit zwei Bier und suchendem Blick durch die Halle gehen. Er bewegte sich immer noch, als sei das hier sein Revier, als habe er einen festen Arsch und nur ein Kinn.
    Jeder nahm wieder den Platz ein, von dem er vor siebzehn Jahren aufgestanden war: der Klassenkasper, der Mädchenschwarm, die Diva, der Verlierer, der Streber und die vielen faden Mäuslein. Und das bedeutete für mich, dass ich einen total beschissenen Abend vor mir hatte.
    Auch ich fühlte mich auf einmal völlig unverändert. War wieder das unscheinbare Mädchen ohne nennenswerte Brüste, dafür aber mit der einzigen fest installierten Zahnspange unserer Klasse – was damals noch Seltenheitswert hatte und mit entsprechend schonungslosen Kommentaren bedacht wurde.
    Aber abgesehen von der Spange gab es an mir nichts

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