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Schwerelos

Schwerelos

Titel: Schwerelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ildikó von Kürthy
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hatte, von ihm nicht vergessen zu werden. Und ich schämte mich dafür, dass ich bis heute seine Telefonnummer auswendig konnte. Und natürlich erinnerte ich mich auch haargenau an den Klang seiner Stimme.
    «Sag mal, haben wir jemals miteinander, ich meine, du weißt schon   …»
    «Nein, nicht dass ich mich erinnern könnte.»
    Ich bemühte mich um einen reservierten Tonfall. Was aus meinem Mund entwich, war jedoch das traurige Fiepen eines verlassenen Welpen.
    «Komisch, dann müsste ich mich doch eigentlich an dich erinnern. So viele waren es ja nicht, die sich von mir nicht haben flachlegen lassen. Insofern hast du einen ziemlich exklusiven Status.»
    Werner Degenhardt hielt sein großflächiges Gesicht wieder direkt vor meines. Ich blickte tief in die Abgründe seiner Poren und bemerkte fassungslos, wie mir ein albernes Kichern entfuhr und sich auf meinem Hals heiße und, wie ich aus Erfahrung weiß, dunkelrote Flecken bildeten.
    Warum tun Einzelteile meines Körpers immer wieder Dinge, mit denen ich eigentlich nichts zu tun haben möchte? Warum lächelte dieser Mund? Warum wurde dieses Gesicht rot? Warum schlug ich die Augen nieder, statt den Vollidioten vor mir?
    Ich kam mir vor wie eine Ampel, bei der die Schaltkreise spinnen. Zeigt Grün statt Rot und ermuntert Leute vorzupreschen, die definitiv lieber stehenbleiben sollten. Leider vermittelte ich Werner Degenhardt dank meiner unzuverlässigen internen Elektrik den Eindruck, er sei ein anbetungswürdiges und einschüchterndes Stück Mann und ich ein scheues Pflänzchen, das gern geerntet werden würde. Werner Degenhardt hatte meine falschen Signale sofort richtig verstanden.
    «Kein Grund, rot zu werden. Was nicht war, kann ja noch werden. Ich organisiere uns jetzt mal ein paar Promille, und dann machen wir uns an die Vergangenheitsbewältigung.»
    Er entfernte sich Richtung Bierfass, und ich erlaubte mir einen langen, nachdenklichen Blick auf seinen schwankendenHintern, der wie ein gigantischer Wassertropfen an seinem Oberkörper hing. Es schien nur noch eine Frage von Sekunden zu sein, bis der Tropfen sich torkelnd lösen und mit einem satten Platschen auf den Turnhallenboden schlagen würde.
    Ich schloss die Augen. In meiner Erinnerung fühlte ich mich besser aufgehoben als in der Realität. Meine Güte, wie habe ich diesen Hintern geliebt, als er noch formstabil war, in Röhrenjeans mit weißen Seitennähten steckte und sein Inhaber im Erdkundeunterricht direkt vor mir saß und sich in drei Jahren nur ein einziges Mal zu mir umdrehte, weil sein Tintenkiller den Geist aufgegeben hatte.
    Stunde um Stunde musste ich mit ansehen, wie er Sabine Fricke – von uns grauen Mäusen aus den hinteren Bänken nur «Flittchen-Fricke» genannt – Zettelchen zukommen ließ, bis sie sich schließlich zu einem geheimen Stelldichein überreden ließ. Küppi Kanak, damals mein einziger Freund, war es gelungen, den Ort der Verabredung ausfindig zu machen: die Turnhalle unserer Schule.
    Dass zwanzig Jahre später unser Klassentreffen ausgerechnet in dieser Turnhalle stattfinden musste, also ich weiß nicht. Eine halbe Ewigkeit hatten Küppi Kanak und ich uns damals hinter den Tischtennisplatten versteckt, bis Werner und Flittchen-Fricke endlich kamen. Minutenlang hörten wir dann leise Schmatzgeräusche aus Richtung der Turnmatten.
    Da hockten wir beide hinter den Tischtennisplatten: traurige Gestalten, die Übriggebliebenen, die Zuschauer. Die Bühne war immer da, wo wir nicht waren. Mir zerbrach mein vierzehnjähriges Herz, während ich meiner großen, heimlichen Liebe beim Küssen zuhörte. Und ich denke, KüppiKanak, dem gedrungenen Halbtürken mit Brillengläsern so groß und dick wie Gullydeckel, ging es nicht besser. Er hat nie offen darüber gesprochen, aber ich bin sicher, dass seine Gefühle für Flittchen-Fricke tief und schmerzhaft waren.

    Wir genierten uns voreinander auf unserem unwürdigen Lauschposten, schauten uns kein einziges Mal an, und so kam es für mich gänzlich unvorbereitet, als Küppi Kanak mit lautem Getöse umkippte – inklusive der Tonne mit den Tischtennisbällen.
    Normalerweise hätte mich das nicht weiter gestört. Küppi wurde zu jener Zeit häufiger einfach mal ohnmächtig, gerne in für ihn belastenden Momenten wie Chemieklausuren, während deren er regelmäßig blass vom Stuhl oder auf den Schoß seines Sitznachbarn plumpste.
    Unnötig zu sagen, dass das Ganze in dieser speziellen Situation in der Turnhalle unerhört peinlich war.

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