Schwerelos
einzige arme Irre, die ich kenne. Ich habe Freundinnen, die viel Geld für Übergepäck bezahlen, weil sie nie ohne ihre Fettwaage inUrlaub fliegen. Ich habe Freundinnen, die sich die Kontaktlinsen rausnehmen, bevor sie sich wiegen, um das Ergebnis nicht zu verfälschen. Ich habe Freundinnen, die mittlerweile wirklich glauben, gedünstetes Gemüse sei ein köstliches Gericht und es ginge doch nichts über einen knackigen Salat ganz ohne Dressing.
Die fortschreitende kollektive Gewichtsneurose lässt sich auch immer wieder eindrucksvoll bei Einladungen zum Abendessen besichtigen. Jedes Mal ist ein Gast dabei, der gerade auf Kohlenhydrate verzichtet und sich durch die Anwesenheit von Teigwaren persönlich beleidigt fühlt. Dann gibt es einen, der, so wie ich, gerade gelesen hat, dass man sich bei Essenseinladungen auf die Beilagen konzentrieren soll. Der isst dann allen anderen die grünen Bohnen weg.
Das wiederum hat zur Folge, dass der obligatorisch anwesende Vegetarier zu kurz kommt und in der Küche hektisch nach irgendwas gesucht wird, was im weitesten Sinne als Rohkost durchgehen kann.
Derweil schaut ein anderer schnell mal in seinem Weight-Watchers-Handbuch nach, wie viele Points eigentlich die als Nachspeise angekündigten Marillenknödel haben und ob sich eventuell vorher bei der Lasagne was einsparen ließe.
Dann ist immer eine dabei, meist eine Frau mit Konfektionsgröße sechsunddreißig, die behauptet, sie sei ein «ganz unkomplizierter Esser». Und der Gastgeber bemerkt erst beim Einräumen des Geschirrs in die Spülmaschine, dass die Dame ihre Portion nicht gegessen, sondern bloß in unappetitliche Mikroschnipsel zerteilt und dann, um weitere Essaktivität vorzutäuschen, auf ihrem Teller hin und her geschoben hat.
Und selbst die einzige Übergewichtige am Tisch, die ungefragtsagt: «Wer mich liebt, liebt mich so, wie ich bin», macht nicht den Eindruck, als gehöre sie selbst zu denen, die sie so lieben, wie sie ist. Alles in allem eine etwas unentspannte Runde. Dafür aber mit einem Top-Body-Mass-Index.
Meine ungemütliche Tante Rosemarie hatte mir zu diesem Thema einen denkwürdigen Vortrag gehalten. Ich war gerade bei den Vorbereitungen zu meinem dreißigsten Geburtstag, als sie mich in Hamburg besuchte.
«Hallo, mein Liebchen! Oh, du bist aber moppelig geworden …»
Ich wusste natürlich, dass sie recht hatte, aber ich war eine derart undiplomatische Form von Ehrlichkeit aus meinem Freundeskreis nicht gewohnt. Es gab sogar Leute, die mir durchaus glaubhaft versichert hatten, dass bei mir fünf, sechs Kilo mehr überhaupt nicht auffallen würden.
«Frank», entgegnete ich patzig, «sagte neulich zu mir: ‹Was soll ich mit einem dieser dürren Models, die Suhrkamp für eine Zigarettenmarke halten?› Süß, oder?»
«Ja, süßes Geschwätz. Glaubst du wirklich, dass Frauen ab Kleidergröße sechsunddreißig abwärts nicht bis drei zählen können und dass die Alternative zum Dicksein automatisch Doofsein ist? Das Gerücht haben dicke Frauen in die Welt gesetzt, um davon abzulenken, dass Schlanksein eine Frage der Disziplin ist. Und du gehörst nun mal nicht zu den passiven Schönheiten. Du musst was für dein gutes Aussehen tun. Abnehmen zum Beispiel. Und zwar ohne zu jammern. Bisher warst du entweder unglücklich, weil du dich zu dick fandest oder weil du gerade auf Kohlenhydrate verzichtet hast. Oder weil du zwar schlank warst, aber bereits sicher, dass du dein Gewicht nicht hältst. Dein jeweiliger Körperzustand musste immer und unter allen Umständenthematisiert werden. Ich habe Briefe von dir, die beginnen mit: ‹Liebe Tante Rosemarie, ich habe zwei Kilo abgenommen.› Damit ist jetzt Schluss. Mit dreißig spricht eine Frau nicht mehr über ihr Gewicht. Sie hält es. Es ist natürlich viel leichter, mit dem Rauchen aufzuhören, als maßvoll zu essen. Rauchen musst du nicht. Essen schon. Wenn du beim täglichen Kampf gegen das zweite Stück Kuchen immer als Verlierer hervorgehst, schlägt sich das nicht nur auf dein Gewicht nieder. Essen ist Charakter. Finde einen Mittelweg.»
«Mittelwege sind mittelmäßig», sagte ich trotzig.
«Nein. Mittelwege sind die Wege, die am schwersten zu finden sind. Es gibt keine dicken Menschen. Nur faule.»
Leider ist Disziplin ja nichts, was man einfach so hat wie braune Haare oder blasse Haut. Disziplin ist eine unzuverlässige Eigenschaft, ähnlich wie Treue, Selbstbewusstsein und der Vorsatz, sich um ein Patenkind in einem notleidenden Land
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