Schwerelos
auseinandergegangen. Ich würde nicht sagen, dass unsere Beziehung gescheitert ist. Sie ist einfach nur vorbei.
Der Kummer explodiert am Nachmittag. Ausgerechnet ein Sonntagnachmittag. Du kannst dich nicht mit Arbeit, Kollegenschwätzchen oder Shopping ablenken. Kein Alltag rettet dich, kein Chef verlangt Konzentration. Alle Freunde haben ihren Scheißsonntag längst verplant.
Ich hatte nie Angst vorm Alleinsein. Warum eigentlich nicht?, frage ich mich jetzt. Gibt es noch irgendwas Schlimmeres?
Meine Trennung von Frank ist neun Stunden her, und schon bin ich davon überzeugt, dass ich ohne ihn nie wieder glücklich werden kann.
Wer sucht jetzt die günstigsten Flüge im Internet? Wer findet heraus, welche Geschirrspülmaschine das beste Preis-Leistungs-Verhältnis bietet? Wer holt mir im Kino Popcorn? Wer sagt mir im Kino, ich solle nicht immer dazwischenreden? Wer geht überhaupt mit mir ins Kino? Wer erinnert mich Jahr für Jahr an die Zeitumstellung und erklärt mir, ob es danach früher hell oder später dunkel oder beides wird?Wer fährt mit mir in Urlaub? Wer fragt mich, wie mein Tag war? Wer wird Zeuge meines Lebens sein? Und wenn ich mir jetzt den Oberschenkelhalsknochen breche? Nicht auszudenken! Lieber mal auf dem Sofa liegen bleiben, um kein unnötiges Verletzungsrisiko einzugehen.
«Ich glaube, du bist dabei, einen großen Fehler zu begehen.»
Verdammt, Frank hatte ja mal wieder so recht!
Er ist aber leider überhaupt nicht der Typ, den ich jetzt reumütig anrufen und um Verzeihung bitten könnte, damit er rechtzeitig zum Beginn vom «Tatort» wieder zu Hause ist und alles wieder so sein kann wie vorher.
Frank ist ein Mann, der einmal getroffene Entscheidungen akzeptiert und nicht revidiert. Leider auch die von anderen Leuten.
Mir ist schlecht vor Leid. Wieso komme ich mir an diesem beschissenen Sonntagabend so unendlich verlassen vor, obwohl ich doch verlassen habe?
Das Sofa erscheint mir auf einmal unnatürlich groß. Ich wickle mich in eine Decke, aber es bleibt kalt.
Ich greife nach einem Glas Wein und meinem trostreichen, duftenden Tantenbuch. Lass mich jetzt nicht im Stich, Rosemarie.
«Ein Leid, das schweigt, befiehlt dem übervollen Herzen:
Jetzt zerbrich.»
(SHAKESPEARE, «MACBETH»)
Das stimmt. Um Schmerzen kommst du eben nicht herum. Und nur weil eine Entscheidung wehtut, heißt das nicht, dass sie nicht richtig ist. Trauer ist kein Argument.
Manchmal wäre ich gern sehr alt. Jetzt zum Beispiel. Endlich Ruhestand. Keine Möglichkeit und keine Sehnsucht mehr, neu anzufangen, sich Herausforderungen zu stellen oder, schlimmer noch, sich ihnen mit schlechtem Gewissen nicht zu stellen. Keiner will mehr was von dir. Du auch nicht. Karriere abgehakt, Sex abgehakt, genug gereist, genug gebildet, genug Kalorien gezählt. Was einem dann noch bleibt? Ich würde einfach friedlich in meinem Lehnstuhl sitzen bleiben, ab nachmittags Sherry saufen, meine Bauchmuskeln vergessen und «Wetten, dass …?» gucken, das dann von einem jetzt noch ungeborenen Star moderiert wird.
Gegen elf würde ich ins Bett gehen, und wenn ich am nächsten Morgen aufwache und noch nicht tot bin, würde ich mich freuen, denn das ist doch schon mal was.
Statistisch gesehen habe ich noch vierundvierzig Jahre zu leben. Wenn mir nichts Schweres auf den Kopf fällt oder eine tödliche Krankheit dazwischenkommt, werde ich 81,6 Jahre alt. Das habe ich neulich gelesen, und ich fand es nur teilweise erfreulich.
So viel Leben. So viele Jahre noch.
Noch vierundvierzigmal die Fragen beantworten: Was mache ich an Silvester? Eine Fernreise machen, wenn in Deutschland Sommer ist? Weihnachten mit oder ohne Baum? Noch vierundvierzigmal überlegen, ob man jetzt endlich eine große Geburtstagsparty macht oder wieder nur «ein Essen im kleinen Kreis». Noch elf Bundestagswahlen und kein Frank, der mir jedes Mal noch in der Wahlkabine den Unterschied zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht erklärt.
Noch sechzehntausendundsechzig Tage. Und die wollenalle sinnvoll, das heißt möglichst wenig vor der Glotze oder bei YouTube, verbracht werden.
Früher wurde man ja mit Mitte dreißig relativ zuverlässig von einer Seuche, einer Naturkatastrophe oder einer misslungenen Niederkunft beseitigt. Da gab es nur wenig Gelegenheit für Langeweile, Weiterbildung, Online-Dating und Nordic Walking. Da war man in der Regel schon tot, bevor man sich nach dem Sinn des Lebens fragen oder Unmengen an Geld für Anti-Aging-Produkte
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