Schwester der Finsternis - 11
gesamten Hügelhang arbeiteten Männer in einer Vielzahl unterschiedlicher Werkstätten. Handwerker, von Lederarbeitern bis hin zu Goldschmieden, trugen zu einer niemals nachlassenden Geräuschkulisse aus Sägen, Mahlen und Hämmern bei; der unablässige Lärm harter körperlicher Arbeit war nervenaufreibend. Viele der ein und aus gehenden Männer bedachten Nicci mit einem langen, interessierten Blick, doch Niccis zorniges Funkeln warnte sie, ihr ja nicht zu nahe zu kommen.
Unmittelbar nachdem sie Richard hinter der Werkstatt des Schmieds hatte verschwinden sehen, begann Nicci die Straße hinunterzugehen. Sie hatte ihm versprochen, zu warten, bis sein Werk vollendet war, ehe sie käme, um es in Augenschein zu nehmen. Sie hatte Wort gehalten.
Trotzdem war ihr nicht ganz wohl dabei zumute. Warum vermochte sie nicht zu sagen, aber es kam ihr fast so vor, als würde sie gleich in eine heilige Stätte eindringen. Richard hatte sie nicht eingeladen, seine Statue zu besichtigen, sondern sie gebeten abzuwarten, bis sie fertig war; und da sie fertig war, würde sie nicht länger warten.
Nicci wollte sie nicht gemeinsam mit all den anderen Menschen auf dem Vorplatz des Palastes sehen. Sie wollte mit ihr allein sein; der Orden und sein Interesse an der Statue waren ihr gleichgültig. Sie wollte nicht inmitten all der anderen Menschen stehen, mitten unter Menschen, die sie überhaupt nicht als etwas Bedeutungsvolles erkennen würden. Dies hatte für sie etwas Persönliches, und sie wollte sie in aller Ruhe betrachten können.
Sie erreichte die Tür, ohne dass sie jemand angesprochen oder auch nur beachtet hätte, und schaute sich in dem gleißenden, dunstigen Nachmittagslicht um. Als sie aber nur Männer sah, die sich ganz ihrer Arbeit widmeten, öffnete sie die Tür und schlüpfte hinein.
Im Raum war es dunkel; seine Wände waren schwarz, die Statue in seinem Inneren aber wurde von dem durch das Oberlicht in der hohen Decke einfallende Licht gut beleuchtet. Nicci vermied es, die Statue unmittelbar anzusehen, sondern hielt die Augen auf den Boden gerichtet, während sie den mächtigen Monolithen eiligen Schritts umrundete, um die Figur beim allerersten Mal von vorne betrachten zu können.
Nachdem sie ihre Position eingenommen hatte, drehte sie sich klopfenden Herzens um.
Niccis Blick wanderte an den Beinen hinauf, an den Gewändern, den Armen und Leibern der beiden Menschen, bis hinauf zu ihren Gesichtern. Ihr war, als schlösse sich eine gewaltige Faust um ihr Herz, bis dieses nicht mehr schlug.
Es war das, was man in Richards Augen sah, in leuchtend weißem Marmor zum Leben erweckt. Es in seiner endgültigen Gestalt vor sich zu sehen war, als würde man vom Blitz getroffen.
In diesem Augenblick schien sich ihr gesamtes Leben, alles, was ihr jemals widerfahren war, alles, was sie jemals gesehen, gehört oder getan hatte, mit einem einzigen gewaltsamen Aufblitzen in einem Punkt zu vereinen. Angesichts ihrer Schönheit, und mehr noch angesichts der Schönheit dessen, wofür sie stand, entfuhr Nicci ein schmerzgequältes Stöhnen.
Ihr Blick fiel auf den Titel, der dort in den steinernen Sockel gemeißelt stand.
LEBEN
Nicci brach unter Tränen auf dem Boden zusammen, zutiefst beschämt, entsetzt, angewidert und geradezu geblendet von der plötzlichen Erkenntnis.
… und ergriffen von reiner, unverfälschter Freude.
65. Kapitel
Nachdem Richard mit dem feinen weißen Leinenstoff zurückgekehrt war, den er gekauft hatte, um die Statue bis zur Feier am darauf folgenden Tag abzudecken, half er Ishaq und mehreren anderen Männern, die er von der Baustelle unten kannte, mit den Vorbereitungen für das mühselige Vorhaben, den schweren Stein mittels eines Schlittens hinunter auf den Palastvorplatz zu transportieren. Zum Glück hatte es seit einiger Zeit nicht mehr geregnet, deshalb war der Untergrund fest genug.
Ishaq, der sich in diesen Dingen auskannte, hatte eingefettete Rollwalzen aus Holz mitgebracht, die vor die die Holzplattform unter der Statue tragenden schweren Holzkufen gelegt wurden, damit die Pferdegespanne die gewaltige Last leichter über den Boden ziehen konnten. Sobald man die Statue auf den zweiten Satz eingefetteter Rollwalzen gezogen hatte, trugen die Männer die hinten liegen gebliebenen nach vorn, sodass die Statue in wechselnden Schüben vorwärts bewegt wurde.
Der Hang war weiß vom Geröll aus Gesteinsabfall, sodass die Statue beträchtlich weniger wog als noch zu Beginn. Ursprünglich hatte Victor
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