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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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führten hinauf. Sie endeten vor einer weiteren Stahltür. Der Beamte probierte die rasselnden Schlüssel an seinem Bund aus. Keiner wollte passen. Skeptisch beäugte Carlos das Treiben. »Sag bloß, du hast nicht den richtigen dabei?«
    »Schnauze!«, zischte der Polizist.
    Philip fragte sich, was die beiden wohl miteinander verband. Aber eigentlich wollte er das lieber gar nicht genauer wissen; seine eigenen Probleme genügten ihm vollauf.
    Endlich schwang die Tür auf. Frost schlug ihnen mit scharfen Krallen ins Gesicht, bohrte sich in die Haut und begann zu wühlen. Hatte Philip tatsächlich angenommen, vor wenigen Minuten in der Zelle wäre es kalt gewesen? Nun, draußen auf der Straße war es bitterkalt Eis überzog die Gehwege wie Glas. Der Wind wirbelte Schneeflocken über den Asphalt, wob sie zu einem dichten Teppich.
    Jetzt war Philip froh, den vergammelten Pulli mitgenommen zu haben. Er streifte ihn sich über, doch es wollte sich kaum Linderung einstellen. Vor allem über seine Glatze scheuerte der Wind wie raues Schmirgelpapier.
    »Verpisst euch«, sagte der Polizist, während er die Tür hinter sich verschloss.
    »Man sieht sich«, sagte Carlos und winkte zum Abschied.
    »Papperlapapp!«, fauchte Rotschopf. »Wir sind jetzt quitt.«
    Dann verschwand er um die nächste Häuserecke.
    Carlos griente. Auf der Otto-Braun-Straße schob ein Räumfahrzeug den Schnee zur Seite. Das orangefarbene Blitzen der Signalleuchten verwandelte Carlos Zähne in faulige Stümpfe. »Also, Bruder«, meinte er. »Gehen wir noch einen trinken? Zur Feier des Tages?«
    »Nein«, sagte Philip bibbernd. Gut möglich, dass die Temperaturen in den letzten zwölf Stunden noch einmal gefallen waren. Er grub seine Hände in die Hosentaschen. »Wie du schon sagtest: Ich hab was auf der Pfanne.«
    »Ist mir recht.« Carlos schnalzte mit der Zunge. »Umso eher treff ich meine beiden Süßen wieder.« Er schlug Philip die Hand auf die Schulter, wie einem alten Kumpel.
    Philip zuckte unter der Berührung zusammen. Ein Schwindelgefühl packte ihn.
    »Lass dich nicht wieder erwischen, Bruder. Kannst mich ja mal besuchen.«
    Schon tauchte er in eine weiße Wolke, die über den Bürgersteig fegte. Philip sah ihm nach. Er dachte nicht daran, diesem kleinen schmierigen Ganoven noch einmal über den Weg zu laufen. Wie auch, er hatte keine Ahnung, wo in Berlin der sich herumtrieb. Ihm fiel auf, dass er nicht einmal wusste, weswegen Carlos im Gefängnis gesessen hatte.
    Bevor er vollends zur Eissäule erstarrte, setzte er sich in Richtung Alexanderplatz in Bewegung und kreuzte die Karl-Marx-Allee. Die ersten Berufspendler wagten sich bereits auf das eisige Parkett. Vor den Scheinwerfer ihrer Autos tobten die Flocken in einem wütenden Chaos. An der Ampel torkelten zwei Nachtschwärmer, deren Kapuzen unter einer schweren Schneeschicht lagen. Unbeeindruckt davon grölten sie ein Weihnachtslied und prosteten Philip mit ihren Bierflaschen zu.
    Er begann zu traben. Ich bin ausgebrochen. Doch es wollten sich weder Freude noch Schuldgefühle einstellen. Er sah die kleine Lisa vor seinem geistigen Auge. Was hatte diese Vision zu bedeuten? Er entsann sich an das letzte Mal, an Grossmann, Gennat, Hanussen und Anita Berber. War das kleine Mädchen ebenfalls schon tot?
    Nach wenigen Minuten rannte er, als könne er damit der Antwort entfliehen. Oder ihr näher kommen?
    Seine Großmutter würde ihm helfen. Doch so, wie er gerade ausschaute, würde er im Krankenhaus nicht zu ihr vordringen können. Er brauchte neue, vor allem aber wärmere Klamotten. Er brauchte Geld. Als er in das gleißende Licht des Bahnhofs am Alexanderplatz tauchte, hatte er eine Idee.
     
     
    London
     
    »Ja, da haben Sie doch den Zimmerschlüssel!«, fauchte Paul Griscom das deutsche Rentnerpärchen an. Es war dem Fahrstuhl entstiegen und an die Rezeption des North Side getreten, wenige Minuten, nachdem sie ihm aus dem Bett geklingelt hatten, weil sie ihren Schlüssel verloren hatten. Den neuen Schlüssel, den er ihnen ausgehändigt hatte, schwenkten sie nun vor seiner Nase, als hätten sie damit ein Weltwunder entdeckt. Was in ihrem Alter gut möglich war. Denn wie ein herkömmlicher Hotelschlüssel sah dieses Wunderwerk tatsächlich nicht aus. Genau genommen war es eine Chipkarte, wie sie Hotelketten wie das Adlon seit Jahren benutzten. Vor einem Jahr hatte Pauls Vater das neue System an den Zimmertüren des North Side installieren lassen: »Eine Investition in die Zukunft«, hatte er

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