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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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und schwieg. Bart zupfte das Lametta auf dem kleinen Weihnachtsbaum zurecht, der seit heute Morgen auf dem Empfangstresen stand und ein wenig Adventsstimmung verbreitete. Er hatte es als eine gute Idee empfunden, nicht nur für die Hotelgäste, auch für Paul. Es sollte Rückkehr zum Alltag suggerieren, nur ein wenig. Aber anscheinend wirkte es nicht.
    »Es tut mir Leid«, entschuldigte sich Paul. »Ich bin einfach nur…« Händeringend suchte er nach den richtigen Worten.
    »Du denkst an Beatrice, richtig?«, fragte Bart.
    Paul ließ die Arme sinken. »Ich denke andauernd an sie. Warum meldet sie sich nicht? Ich mache mir Sorgen. Das muss sie doch wissen. Vielleicht ist ihr etwas passiert.«
    Bart ballte die Hände zu Fäusten. »Paul«, sagte er und fühlte sich dabei mies in seiner Haut, »gib ihr Zeit.«
    »Wie lange denn noch? Wie lange muss ich noch warten?«
    Bart presste die Lippen aufeinander. »Sie ist erst vor zwei Tagen gefahren.«
    »Ich halte das nicht aus. Diese Ungewissheit. Was ist, wenn sie gar nicht mehr kommt? Bitte sag mir, dass ich falsch damit liege.«
    Ein unbestimmtes Gefühl sagte Bart, die Freundin seines Bruders würde so schnell nicht mehr nach London kommen. Paul würde das begreifen müssen. Und dann würde er noch viel mehr aushalten müssen. »Nimm dir ein paar Tage frei«, empfahl er. »Gönn dir die Ruhe. Die letzten Tage waren zu viel für dich.«
    Paul ignorierte den Vorschlag. »Ich halte das nicht aus. Ich habe das Gefühl, ich geh daran kaputt.«
    »Sag so was nicht.«
    »Sie hätte die Reise nicht antreten dürfen.«
    »Sie wollte es aber«, erinnerte Bart.
    »Wir hätten sie daran hindern müssen.«
    »Du willst sie daran hindern, sich selbst zu finden?«
    Paul verdrehte die Augen. »Und was ist mit mir?«
    »Du bist egoistisch«, warf ihm Bart vor und machte sich auf den Weg zurück in die Küche.
    »Bin ich das?«, rief ihm Paul hinterher. »Bin ich das? Ich frage mich, wer hier egoistisch ist? Wer denkt denn laufend an das Geschäft? Ja, ja, der Hotelbetrieb, der muss laufen. Hauptsache die Kohle stimmt. Und wer denkt an Beatrice? Ich denke an sie. Ich will ihr doch nur helfen.«
    »Hilf dir erst einmal selbst«, sagte Bart.

Freitag
     
     
     
    London
     
    Seit dem Tod ihres geliebten Mannes Arthur, Gott habe ihn selig, war es um den Schlaf von Miss Barkley nicht mehr gut bestellt. Meist wachte sie noch vor dem ersten Hahnenschrei auf – was, obwohl sie in unmittelbarer Nähe zur Londoner Innenstadt lebte, mehr als eine Floskel war, denn irgendwo im Hampstead Heath Park trieb sich ein Gockel herum. Gesehen hatte sie ihn zwar noch nie, wohl aber gehört.
    So stand sie auch an diesem Freitag noch vor der Dämmerung auf und machte sich ihr Frühstück. Oft verbrachte sie die Zeit bis zum Tagesanbruch mit Erinnerungen an die Jahre, die sie mit Arthur in dem kleinen Häuschen in der Willow Road unweit des North Side-Hotels verbracht hatte. Abgelenkt wurde sie dabei nur von ihren Gedanken über die Ereignisse des Vortages, der vergangenen Tage, der letzten Woche. Mit Argusaugen – ein Bündel Wolle auf dem Schoß, zwei Stricknadeln in der Hand – überwachte sie Tag für Tag das Geschehen draußen auf der Straße. Wenn es sonst niemand tat!
    Nach dem Frühstück kehrte sie die Krümel, die von ihren Brötchen auf den Boden gefallen waren, zusammen und trug sie hinaus ins kleine Vogelhäuschen im Vorgarten. Auch die Spatzen, Meisen und Eichelhäher, die sich im Herbst nicht den Zugvögeln angeschlossen hatten, sollten die kalte Jahreszeit überleben.
    Sie genoss diese Stunden, noch bevor die ersten Lichter in den Häusern aufflammten und die Pendler ihren Weg ins Zentrum vorbereiteten. Manchmal gewann sie den Eindruck, die Dämmerung würde nur widerwillig heraufziehen. Fast so, als scheute sie sich, einen Blick auf das unablässige Brodeln im Herzen der Stadt zu werfen; Menschen, die keinen Unterschied mehr machten zwischen dem Tag und der Nacht. Selbst hier in Hampstead hatten die Zeiten sich geändert. Das Rauschen des Verkehrs, das der Wind durch das kahle Geäst des Hampstead Heath Park herübertrieb, erinnerte daran, dass das Zentrum sich immer weiter ausbreitete.
    Angewidert schüttelte sie ihr graues Haupt und kehrte zurück in die warme Stube. Sie goss einen Tee auf, machte es sich in ihrem Sessel bequem und wartete in der Dunkelheit. Wartete darauf, dass der Tag anbrach. Was würde er heute bringen? Ganz sicher keinen so großen Schrecken wie jüngst, als… Nein,

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