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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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sie wollte nicht daran denken. Sie hatte den Schock überwunden und war Gott sei Dank auch nicht in das unselige Hampstead Medical High eingeliefert worden. Eine Beruhigungsspritze ihres Hausarztes hatte ausgereicht, und nebenher hatte sie den guten Doktor Ridgefeld über die aktuellsten Vorkommnisse in der Willow Road in Kenntnis setzen können. Dabei hatte sich herausgestellt, dass der Doktor bereits informiert gewesen war. War er doch tatsächlich auch der Hausarzt der Griscoms. Zufälle gibt’s!
    Als Miss Barkley zu ihrer Tasse greifen wollte, fiel ihr der Wagen auf, der vor dem schmalen Reihenhäuschen hielt, in dem der arme Paul und seine Beatrice lebten. Gelebt hatten, korrigierte sie sich.
    Ein Mann stieg aus dem Auto und sah sich um, als sei er sich nicht sicher, ob er vor dem richtigen Haus stand. Oder wollte er sich vergewissern, dass er nicht beobachtet wurde? Miss Barkley beugte ihr Gesicht nach vorne, bis ihre Nase die kalte Glasscheibe berührte. Der Mann eilte unter dem Laternenlicht hindurch rasch zur Haustür, doch der kurze Augenblick reichte. Miss Barkley hatte genug gesehen. Der Mann war ein Priester, daran ließ sein Talar keinen Zweifel. Sie hielt den Atem an, und ihre Tasse Tee, die sie noch auf halbem Wege zwischen Tisch und Lippen hielt, war vergessen.
    Ein Priester?, fragte sie sich. Sie war durchaus ein gläubiger Mensch, nicht erst seit der Herrgott ihren geliebten Arthur zu sich genommen hatte. Aber wenn es einen Priester zu so früher Morgenstunde in den Park verschlug, dann musste wirklich etwas Schlimmes geschehen sein. Wie viel Leid hatte die arme Familie Griscom noch zu ertragen?
    Miss Barkley stellte den Tee zurück auf den Tisch und bekreuzigte sich.
    Paul wusste nur wenig über seine Nachbarin und würde von der Parallele zwischen ihnen nie erfahren, aber auch ihm war die Nachtruhe seit dem Tod eines geliebten Menschen geraubt worden. Mit dem kleinen Unterschied, dass Beatrice wieder auferstanden war. Blödsinn, sie ist nie wirklich gestorben. Trotzdem war sie von ihm gegangen, und er hatte sie nicht halten können. Aber hatte er sich wirklich darum bemüht? Hieß es nicht: Man muss die Menschen manchmal zu ihrem Glück zwingen?
    Das Bett schaukelte, als er sich herumwälzte. Die Betthälfte neben ihm war leer. Er schloss die Augen und dachte an Beatrice, an Momente ihres gemeinsamen Lebens. Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.
    Ihre Worte hallten in seinem Kopf nach. Das Paradies. Immer wieder. Die Erinnerung. An einen Tag wie jeder andere. Es war noch einige Stunden bis zum Tagesanbruch. Beatrice schlummerte neben ihm, sie schnarchte leise. Er kuschelte sich an sie.
    »Ich liebe dich«, hauchte er in ihr Ohr.
    »Ich liebe dich auch«, murmelte sie im Halbschlaf.
    Er spürte ihren Atem auf seiner Haut, ihre Wärme und ihre Nähe. Er würde sie nicht mehr loslassen. Nicht noch einmal. Er würde ihr von seinen Plänen berichten, dem North Side, das sie von seinen Eltern erbten, von der Hochzeit, der Hochzeitstorte, den Hochzeitsglocken und der kleinen Familie, die sie anschließend gründen würden. Ja, mit den Kindern würde alles neu beginnen.
    Er freute sich so sehr, dass er die Glocken läuten hören konnte. Kraftvoll drang er in sie ein, und sie keuchte. Der Schweiß klebte ihre Körper aneinander, sie verschmolzen zu einer Einheit. Ihre Bewegungen wurden schneller und die Vorfreude größer.
    Es läutete.
    Die Sekunde, in der ein Traum eins wird mit der Realität, ist der schlimmste Augenblick. Man kann nicht unterscheiden zwischen dem, was der Schlaf einem vorgaukelt, und der Wirklichkeit, die in den Traum einbricht. Paul schrie auf, klammerte sich an dem nahenden Höhepunkt, wollte sich nicht lösen, nie mehr.
    Dann erwachte er.
    Die Türklingel.
    Mit pochendem Schädel erhob er sich aus dem Bett und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Die Uhr zeigte kurz vor 6. Wer zum Teufel klingelte zu dieser nachtschlafenden Zeit? Er kannte keinen Menschen, der… Er sprang auf. Es gab einen Menschen, der um diese Zeit bei ihm klingeln würde. Er rannte die Stufen ins Erdgeschoss und riss beinahe die Vase mit den Nelken vom Sideboard. Er hastete weiter. Es störte ihn nicht, dass sich die Erektion deutlich unter seinen Shorts abzeichnete. Er wusste, wer da vor der Tür stand und Einlass begehrte. Jemand, der heimkam. Zurück in die Willow Road.
    Er riss die Tür auf, und die Hoffnung zerfiel. Ein Mann stand draußen, aufrecht und

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