Schwester der Toten
Outfit bei den Teenagern schwer angesagt, weswegen er hoffte, fürs Erste keine Aufmerksamkeit zu erregen. Um ganz sicherzugehen, suchte er sich einen Waggon, in dem nur wenige Passagiere saßen.
Dennoch fühlte er sich beobachtet. Hatte Kommissar Berger bereits eine Fahndung nach ihm ausgeschrieben? Fand sein Foto sich auf den Titelseiten aller Berliner Tageszeitungen?
Philip zog die Mütze tiefer in die Stirn, senkte den Kopf. Ab und zu schaute er abrupt auf, um den vermeintlich forschenden Blicken der Leute zu begegnen. Doch entweder waren sie zu gerissen oder sie schenkten ihm tatsächlich keinerlei Beachtung. Sie fuhren zur Arbeit, zum Einkaufen, einige wenige auch zum Stadtbummel, starrten müde aus den graffitiverschmierten Fenstern auf die vorbeirasenden Tunnelwände oder auf ihre matschigen Schuhe. Ihre Mienen waren so grimmig wie der Winter. Einige Leute waren auf ihren Sitzen eingenickt. Die Berliner Mentalität, bloß die Nase aus allem rauszuhalten, kam ihm jetzt gerade recht.
Trotzdem sprang er an der nächsten Station aus dem Waggon und erstand am Kiosk die neue Ausgabe des Kurier. Während er auf die nachfolgende Bahn wartete, blätterte er durch die Seiten. Die augenfälligste Schlagzeile galt dem Wetter. Von einem Jahrhundertwinter war die Rede. Meteorologen prophezeiten Schneefälle wie schon lange nicht mehr. Und eine weiße Weihnacht.
Eine Nachricht über seine Flucht fand er nicht. Die Zeit war zu knapp gewesen für die Frühausgabe. Beruhigt warf er die Zeitung in einen Müllkorb.
Auch über Wedding lag ein weißer Schleier, und das war gut so: Er verdeckte gnädig die Sünden der Vergangenheit. Der Stadtteil hatte im Krieg kaum Schäden erlitten, trotzdem hatten die Stadtväter in den 50er und 60er Jahren entschieden, einen Großteil der Altbauten abzureißen. Der Neuaufbau hatte sich hingezogen, und herausgekommen war – wie übrigens in ganz Westberlin – ein unansehnlicher Architekturmix unterschiedlichster Jahrzehnte. Er war fade und grau im Vergleich zu den Altbauten in Ostberlin, die im real existierenden Sozialismus zwar halb verfallen, nach der Wende in freudiger Erwartung neuer zahlungskräftiger Mieter aber eiligst saniert worden waren.
Unter dem Schneekleid bekam Berlin endlich die Einheit, die es herbeisehnte. West und Ost waren nicht mehr zu unterscheiden. Leider verschluckte der Winter auch den majestätischen Anblick des Jüdischen Krankenhauses, der einzigen jüdischen Institution in Berlin, die den Naziterror überdauert hatte. An Sommertagen wirkte das aristokratische Monument mit seinen ausladenden Flügeln und Korridoren und einer großen Parkanlage inmitten der Westberliner Moderne wie ein Palast aus vergangenen Zeiten.
Aber selbst wenn es nicht unter dem eisigen Geflecht aus Schnee und Eis verschwunden gewesen wäre, Philip hätte an diesem Tag keine Notiz von der Herrschaftlichkeit des Gebäudes genommen. Ihm war bewusst geworden, dass er absolut keine Idee hatte, wie er zu seiner Großmutter vordringen sollte. Er kannte ja nicht einmal ihren Namen. Entschuldigen Sie, ich würde gerne zu meiner Oma. Ihr Name? Tut mir Leid, keine Ahnung. Erschwerend kam hinzu, dass sie auf der Intensivstation lag, ohnehin ein abgeschirmter Krankenhausbereich.
Trotzdem zögerte er nicht lange und betrat das Foyer. Direkt gegenüber der Eingangstür erhob sich eine Glaskabine, in der der Pförtner saß. Neben einem raumhohen Tannenbaum, der mit geschmacklos buntem Lametta und gewaltigen Christbaumkugeln behangen war, gab eine Tafel Auskunft über die Anordnung der Krankenstationen. Die Intensivstation lag im rechten Gebäudekomplex. Dort gab es auch eine Cafeteria, einen Kiosk – und ein Blumengeschäft.
Philip kam eine Idee. Gewagt, aber den Versuch wert. Es würde auch sein einziger Versuch bleiben, denn wenn es nicht klappte, konnte er sich hier nicht noch einmal blicken lassen. Entschlossen durchschritt er das Foyer, eilte an der Cafeteria und dem Kiosk vorbei und erwarb vom Floristen ein kleines Bouquet aus roten Nelken und Viburnumblüten.
Damit kehrte er zurück in den Empfangsbereich und trat vor die Glasscheibe, die Besucher vom Pförtner trennte. Ein kleines Schildchen am unteren Ende gab Auskunft darüber, dass »Pförtner Wegener« heute Dienst schob. Mit unbedarfter Stimme sagte er: »Entschuldigen Sie, gestern Morgen wurde eine ältere Dame mit einem Herzinfarkt eingeliefert.«
Pförtner Wegener, ein älterer Mann mit grauem Haarkranz um eine ausgeprägte
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