Schwester der Toten
war schon jemand da gewesen, nämlich der Priester. Philip unterließ es, sie darauf hinzuweisen. Stattdessen sagte er: »Können Sie nicht eine Ausnahme machen?«
»Das geht nicht…«
»Bitte«, sagte er.
»Es steht keine Schwester zur Verfügung, die Sie begleiten kann.«
»Und was ist mit Ihnen?«
Sie funkelte Philip an. »Ich war nur gerade in der Nähe, als Sie klingelten. Ich habe keine Zeit.« Und ich habe eigentlich auch keine Zeit, mit Ihnen zu diskutieren, bedeutete ihr Blick.
»Dann warte ich.«
Der Zopf tanzte überschwänglich, während sie ihren Kopf schüttelte. »Hören Sie, selbst wenn ich Sie zu Ihrer Großmutter ließe, könnten Sie ohnehin nicht mit ihr sprechen. Sie ist seit gestern bewusstlos.«
»Und wenn sie wach wird?«
»Wird sie dennoch nicht reden können. Sie hat einen Herzinfarkt erlitten, einen schweren.« Die Schwester machte Anstalten, die Tür hinter sich zu schließen.
Philip überlegte fieberhaft. Es musste doch einen Weg geben. Er hielt ihr die Nelken hin. »Würden Sie wenigstens die Blumen nehmen?«
Sie starrte ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Das geht nicht. Pflanzen sind nicht erlaubt.«
»Also gut«, sagte er, während er verzweifelt nach einer Lösung suchte. Der Zufall sprang ihm bei. Ein Alarmsignal erklang.
»Es tut mir Leid.« Die Schwester zuckte bedauernd die Achseln, wies in Richtung Ausgang. Dann wandte sie sich um, schob mit einem energischen Ruck die Tür auf und eilte einen Flur entlang. Krankenzimmer zweigten alle paar Meter ab. Ärzte und Pfleger liefen umher. Es war nicht genau zu unterscheiden, wer wer war.
Sekunden vergingen, während die Tür langsam zurück in den Rahmen schwenkte. Philip reagierte. Er warf den Blumenstrauß in das Waschbecken, tauschte die Bommelmütze gegen einen Kittel mitsamt Mundschutz. Gerne hätte er sich noch die Hände gewaschen, aber die Zeit blieb ihm nicht. Rasch streifte er sich den Kittel und die Maske über und schlüpfte durch die Tür, bevor sie die Intensivstation endgültig von der Sicherheitsschleuse trennte.
Er hatte mal einen Zeitungsartikel gelesen, in dem Intensivstationen als Stroke Units bezeichnet worden waren. Das brachte es auf den Punkt. Die Intensivstation war eine geschlossene Abteilung, eine sterile Welt für sich. Die grünen Umhänge und Mundschutze, hinter denen sich die Menschen bewegten, ließen den Ort wie einen fremden Planeten voller Aliens wirken. Die oberste Regel war: So tun, als sei man einer von ihnen.
Er bewegte sich langsam, versuchte aber den Eindruck zu erwecken, zielsicher einem bestimmten Raum zuzustreben. Was ja nicht einmal gelogen war. Wenn er nur gewusst hätte, welcher Raum. Niemand nahm Notiz von ihm, ein grüner Außerirdischer mehr oder weniger fiel nicht auf. Unauffällig hielt er sich nahe der Wand, schielte durch die Glasscheiben in die Zimmer.
Er erkannte sie auf Anhieb. Ein Blick links, ein Blick rechts, dann stand er in ihrem Zimmer.
Berlin
Das Kriminalkommissariat Berlin-Mitte war ein sperriger Betonklotz aus den 70er Jahren und unterschied sich in seiner Hässlichkeit nicht sonderlich von der DDR-Architektur, die den Alexanderplatz dominierte. Die Flure innen waren nüchtern weiß, nicht selten war der blanke Putz anstelle von Tapeten zu sehen. Die wenige Farbe stammte von Fahndungsplakaten und Aufklärungspostern Die Polizei rät, mit Nadeln auf rissigen Kork gepinnt.
Lacie wurde von einem missgelaunten Polizisten in zerknitterter Zivilkleidung begrüßt, der sich als Kommissar Berger vorstellte, Sebastian Berger. Trotz seiner üblen Laune war ihm dennoch die Überraschung darüber anzumerken, dass ausgerechnet ein Sonderbeauftragter des Vatikans um Zugang zu einem Häftling bat. Er lenkte ihn in sein Büro und wies ihm einen Stuhl vor seinem Schreibtisch zu. Er selbst blieb stehen und lehnte sich mit den Oberschenkeln gegen die Tischplatte. Er zwirbelte die spitzen Enden seines immensen Bartes, während er darauf wartete, dass Lacie das Wort ergriff. Als dieser schwieg, begann er selbst das Gespräch, und die Ungeduld in seiner Stimme war nicht zu überhören: »Mein Kollege Kalkbrenner meinte, Sie hätten nach mir verlangt.«
Lacie antwortete: »Das ist nicht ganz korrekt. Ich würde gerne mit dem Häftling Philip Hader sprechen. Doch Ihr Kollege bestand darauf, zunächst Sie aufzusuchen.«
»Richtig«, pflichtete Berger bedächtig bei.
»Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Meine Zeit ist knapp
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