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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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nur bewusstlos. Er glaubte, ein Lächeln auf ihren Lippen zu erkennen. Aber das mochte auch nur eine Täuschung sein, hervorgerufen von den Tränen, die seine Augen benetzten.
    »Wer sind Sie?«, fragte eine Stimme an der Tür. Ein Arzt stand im Raum.
    »Ihr Enkel«, erwiderte Philip. Seine eigene Stimme war ihm fremd.
    »Und wo ist die Schwester? Wer hat Sie reingelassen?«
    »Nun…«, sagte Philip.
    Der Doktor schien zu verstehen. »Gehen Sie!«
    »Ist ja schon gut.« Philip lief an dem Arzt vorbei aus dem Zimmer.
    Auf dem Gang prallte er mit einer Schwester zusammen. Sie packte ihn am Ärmel. »Unerhört!«, schimpfte sie und gestikulierte wild. »Ich hab die Blumen gefunden und die Mütze.«
    Es war die Krankenpflegerin mit dem schütteren Haar, die ihm den Zutritt verweigert hatte. Aber das bekam Philip kaum mit, weil er stattdessen eine gebrechliche Greisin sah, deren Gehhilfe unter ihrem Körper wegbrach. Sie stand nicht auf dem Krankenhausflur, sondern auf einer breiten asphaltierten Straße, irgendwo in Berlin, vermutete er. Ein Sattelzug bog um den Block. Die Aufmerksamkeit des Fahrers war auf etwas im Führerhaus gerichtet. Mühsam rappelte die alte Frau sich auf, und Philip erkannte die Krankenschwester, nicht jetzt, sondern in dreißig oder vierzig Jahren. 390 PS donnerten ihr entgegen. Bremsen! Zu spät… Schmerzen, scharf wie ein Speer, bohrten sich in Philips Schädel.
    »Was?«, würgte er hervor. Er löste sich aus ihrer Umklammerung. Sofort entspannten sich seine Schläfen, schwand der abscheuliche Film vor seinen Augen.
    »Es reicht«, sagte der Arzt. »Ich bringe Sie raus. Sofort!« Er griff nach Philips Arm. Ein weiteres Bild schob sich vor dessen Augen, die Ahnung einer Vision, nur ein Schemen zwar. Aber das war zu viel. Philip wollte das nicht sehen, nicht schon wieder, nicht noch mehr. Er schrie auf. Der Doktor ließ abrupt von ihm ab. Das entsetzliche Bild verschwand, die Verzweiflung jedoch blieb.
    So schwer es ihm fiel, Philip machte einen Satz, mehr ein unbeholfenes Trudeln, und stolperte an den beiden vorbei zum Ausgang. Der Arzt brüllte etwas, aber da hatte er die erste Tür zur Sicherheitsschleuse bereits hinter sich gelassen, den Kittel und den Mundschutz in eine Ecke geworfen und war auf dem Weg nach draußen. Schade um Kens Bommelmütze, aber sie war ohnehin unanständig hässlich.
    Draußen fegte der Wind ihm eisige Splitter ins Gesicht und riss ihm die nackte Haut vom Kopf. Zumindest fühlte es sich so an. Er hätte doch nach der Mütze greifen sollen.
    Was geschah bloß mit ihm? Hatte er nicht schon genug von diesen verdammten Fähigkeiten?
    Der Schnee fiel in dichten Schwaden vom Himmel. Die Sicht reichte nur noch wenige Meter. Schon die Straße jenseits des Gehweges war von einer weißen Wand verschluckt, immer wieder durchbrochen von Menschen, die der Sturm überrascht hatte und die sich jetzt durch das Schneegestöber zur Arbeit quälten. Philip sprang zur Seite, als sie ihm zu nahe kamen. Er rutschte aus, drohte zu stürzen. Er behielt das Gleichgewicht. Der Winter nahm Berlin in den Würgegriff. Und es war, als würde er auch Philip zunehmend die Luft zum Atmen rauben.
    Schlotternd suchte er den Weg zur U-Bahn-Station. Als er die ersten Stufen hinab in die stickige Röhre stieg, kamen ihm Zweifel. Es war keine gute Idee, sich nach dort unten zu begeben, wo sich die Menschen dicht an dicht auf den Bahnsteigen drängelten. Aber er wollte sich nicht unterkriegen lassen. Er musste herausfinden, was mit ihm geschah. Und er hatte ein neues Ziel. Zu Fuß allerdings würde er den ganzen Tag dorthin brauchen. Für ein Taxi fehlte ihm das Geld.
    Ken hatte ihm mal erzählt, Leute würden grundsätzlich vorne in die U-Bahn einsteigen. Egal wann, spät nachts oder zur Rush Hour, in den vorderen Abteilen würden sie sich stauen, in den hinteren Waggons dagegen ließen sie Platz in Hülle und Fülle. Bisher hatte Philip nie Acht darauf gegeben. Erleichtert stellte er jetzt fest, dass Kens Theorie tatsächlich der Wahrheit entsprach. Er teilte sich den letzten Waggon mit nur wenigen Passagieren, die in sich versunken auf ihren Sitzen kauerten.
    Während der Fahrt zum Hermannplatz in Neukölln kam er wieder zu Kräften. Als er die U-Bahn-Station verließ, hatte der Himmel eine Pause eingelegt. Die Wolken hingen grau und schwer über Berlin, doch für einige Minuten hielten sie den Schnee zurück. Die Sicht war frei, quer über den Platz. Normalerweise war er mit einer Vielzahl Marktbuden

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