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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Arm verschwanden. Ein rot glimmendes Lämpchen war an ihrem rechten Zeigefinger befestigt.
    Karteikarten waren in einer kleinen Plastikfolie an die Vorderseite ihres Bettes geheftet. Philip besah sie sich aus der Nähe. Eleonore Berder stand auf der ersten Seite. Die Angaben zur Versicherung fehlten. Vorsichtig klappte er die Folie zurück und warf einen Blick auf die zweite Seite: Pannierstraße 82. Berlin. Er stutzte. Die Hausnummer war sein Geburtsjahr. Ein Zufall?
    Mehr Personalien waren nicht eingetragen. Aber sie reichten aus. Es war ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass sie nicht auf der Straße hauste, sondern eine Wohnung besaß.
    »Eleonore Berder«, sprach er leise ihren Namen aus, während er in dem Krankenzimmer stand, inmitten all der blinkenden Maschinen. Die Frau im Bett hatte nichts mehr gemein mit jener alten Dame auf dem Foto, das er die vielen Jahre im Heim gehütet hatte. Aber als er ihren Namen wiederholte, Eleonore Berder, da klang er vertraut in seinen Ohren. Als hätte er ihn bereits ein Leben lang gekannt. Er nahm ihre Hand. Sie war erschreckend kalt. Er schnappte nach Luft, stieß sie aus, und sein Atem kondensierte zu einem nebligen Wölkchen vor seinen Lippen. Verwirrt schaute er sich um. Wurde in dem Zimmer nicht geheizt?
    Als er zurück zum Krankenbett blickte, hatte die alte Frau sich tatsächlich in eine Leiche verwandelt, von deren Knochen das fahle Fleisch blätterte. Der leibhaftige Tod. Seine Haare richteten sich auf wie unter einem elektrisierenden Stoß. Sie trug einen Pyjama, an dem die Zeit mit scharfen Klauen genagt hatte, farblos und löchrig. Ihr Kopf stand in einem seltsamen Winkel vom Körper ab, so unnatürlich, dass es ihm für einen verstörenden Augenblick die Sinne raubte.
    Benommen trat er einen Schritt zurück, seine Finger lösten sich von ihrer Hand. Der Anfall war vorüber. Die Kälte fiel von ihm ab, der Heizkörper an der Wand füllte den Raum mit Wärme.
    Philip stieß unwillkürlich die Luft aus, als er sah, wie ihre Augen sich öffneten. Ihr Mund verzog sich, erstarrte dann, wie Wachs, das erst weich und dann wieder hart wird. Sie bemühte sich zu sprechen, aber nur ein Krächzen kam über die aufgesprungenen Lippen. Sie wollte den Kopf vom Kissen heben. Es fehlte ihr die Kraft.
    Er starrte auf sie herab, hin und her gerissen zwischen Entsetzen und Freude.
    Sie sagte, aber es war mehr ein Knirschen, die knirschenden Knochen einer Toten: »Philip…«
    So vieles war die letzten Tage geschehen. Aber erst jetzt quollen ihm Tränen aus den Augen und rannen die Wangen hinab.
    Sie warf den Kopf empor, so weit, wie es die Schläuche erlaubten. Im nächsten Augenblick begann sie zu sprechen, und es klang überraschend klar und deutlich: »Du musst…«, ihre Kehle gab einen gurgelnden Laut von sich, »… treffen.« Er wagte nicht daran zu denken, wie viel Kraft und Schmerz sie diese Worte kosten mussten. Ermattet sank sie auf das Kissen zurück.
    So viele Fragen hatte er sich zurechtgelegt. Doch das Einzige, was er jetzt hervorpresste, war: »Wen?« Es klang gedämpft durch den Mundschutz. Wen treffe ich?
    Sie hob ihre Hand, als wollte sie nach ihm greifen. Aus einem Reflex trat er einen Schritt nach vorne, wollte ihre Finger umschließen, doch dann erstarrte er in der Bewegung. Das furchtbare Erlebnis von vor wenigen Minuten steckte noch in seinen Gliedern. Um nichts in der Welt wollte er einen neuerlichen Blick auf den schon verfallenden Leichnam seiner Großmutter werfen – nichts anderes war es gewesen, daran hatte er keinen Zweifel.
    Als wüsste sie um seine Gedanken, schüttelte sie den Kopf, als würde sie nicht akzeptieren wollen, dass ihr Weg an diesem Ort ein Ende fand. Mit der anderen Hand, nur Haut und Knochen, an denen dürre Glieder hingen, die einmal zarte Finger gewesen waren, griff sie in die Luft, als wollte sie etwas festhalten, was unsichtbar im Raum schwebte. Er sah genauer hin. Sie deutete auf ihn. Nein, auf etwas, was hinter ihm war. Stand derjenige, mit dem er sich treffen sollte, etwa hinter ihm? Er drehte sich um. Da war niemand. Nur ein schmaler Schrank voller medizinischer Utensilien, wie anzunehmen war. Und eine billige Holzkommode, die nicht in das sterile Ambiente passen wollte. Was sah sie, das er nicht sah?
    Als er sich wieder zu ihr wandte, hatte sie die Augen geschlossen. Ihr Kopf war zur Seite gesackt, ihre dünnen Finger waren zurück auf die Matratze gefallen. Nur die Geräte wiesen darauf hin, dass sie noch nicht tot war;

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