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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Scherben lagen auf dem Boden. Die Kommode war leer. Philip war sich jedoch sicher, dass der Schrank noch etwas barg. Er klopfte das Holz an den Seiten ab. Nichts. Die Rückwand. Vergebens. Er betrachtete den blanken, schmucklosen Putz der Wand hinter dem Schrank.
    Unwahrscheinlich!
    Ganz sicher hatten auch die Einbrecher diese Möglichkeit in Erwägung gezogen. Trotzdem tasteten seine Finger den rauen Putz ab. Er spürte seine Hände kaum noch, so bitterkalt war ihm, aber er gab nicht auf. Bald hatte er die ganze Wand abgeklopft, doch selbst hinter der Fußleiste am Boden keinen Hohlraum ausmachen können.
    Sein Blick blieb an einem kleinen Nagel hängen. Er sah genauer hin. Es war der einzige Nagel, der die Holzleiste an der Wand hielt. Er ragte ein kleines Stück hervor, vielleicht einen Millimeter, gerade so viel, dass man einen Fingernagel in die Vertiefung zwischen Stahl und Holz schieben konnte. Sollte etwa…?
    Er zupfte mit tauben Fingern an dem Nagel. Erst geschah nichts.
    Enttäuscht wollte er sich abwenden. Dann knackte es unter seinen Schuhen. Er trat beiseite. Etwas knatterte unter dem Parkett, ein schwerfälliger Mechanismus, der in Gang gesetzt wurde.
    Eine der Holzdielen wackelte und gab einen obszönen Laut von sich, dann klappte sie empor und gab den Blick frei auf einen Hohlraum, der sich nach unten hin erweiterte. Ein Computerbildschirm hätte darin Platz gefunden. Staunend betrachtete er den Schließmechanismus des Dielenbretts. Es war eine filigrane Arbeit, von meisterlicher Präzision. Die Vorrichtung war unter den altersschwachen Holzdielen perfekt versteckt und ließ auf einen raffinierten Tüftler schließen.
    Philip kam der Gedanke, dass die armselige Wohnung möglicherweise nur Maskerade war, eine perfekte Tarnung. Angesichts seiner Entdeckung gar keine abwegige Idee.
    In der Vertiefung befand sich eine Schachtel, braun wie ein Schuhkarton, allerdings ohne Aufdruck. Er ging in die Knie, hob sie heraus und betrachtete sie für einige Sekunden. Sie war mit Staub überzogen, offenbar lag sie schon längere Zeit ungeöffnet dort unten. Was sie wohl enthalten mochte? Vorsichtig nahm er den Deckel ab. Drinnen lag eine altmodische Kladde, auf deren Vorderseite ein Foto geklebt war. Es zeigte einen lächelnden Jungen mit großen dunklen Augen und ungekämmten Haaren, die ihm ins Gesicht fielen. Trotz seines Lächelns sieht er irgendwie unglücklich aus, dachte Philip.
    Erst dann fiel ihm auf, dass er selbst der Junge auf dem Foto war. Plötzlich fieberte er vor Aufregung. Er griff zur ersten Seite und schlug sie auf. Schnell blätterte er die weiteren Seiten um. Immer hastiger huschten seine Finger über die Seiten, die mit weiteren Fotos beklebt waren: Philip als Baby, als kleiner Junge, als Teenager. Keuchend rang er nach Luft, weil er vergessen hatte zu atmen.
    Sein ganzes Leben lag in der Kladde vor ihm ausgebreitet. Artikel aus Kurier- Ausgaben der letzten Monate, in denen seine Fotos veröffentlicht waren. Aber auch Berichte aus älteren Ausgaben anderer Tageszeitungen. Er konnte sich nicht daran erinnern, vor seiner Arbeit als Fotograf für den Kurier in Zeitungen veröffentlicht zu haben, geschweige denn, dass Zeitungen über ihn berichteten. Nun, Letzteres würde nach seiner Flucht wohl in Zukunft öfter vorkommen.
    Er betrachtete die Zeitungsartikel eingehender. Die Berichte befassten sich mit einem Unfall vor 20 Jahren. Eine Frau war dabei gestorben. Philips Herz erlahmte.
    Nur ein Junge habe den Unfall überlebt, ihr Sohn. Und das sei nur dem tapferen Einsatz des Künstlers Eduardo Desfault zu verdanken. Philip griff sich einen Bericht, der mit der Schlagzeile Was macht eigentlich…? acht Jahre nach dem Unfall verfasst worden war. Neben dem Foto eines mit Pinseln und Staffelei bewehrten Malers las er:
     
    Die Rettung des kleinen Philip hat Eduardo Desfault beinahe selbst das Leben gekostet Er hat sich nie mehr von dem Unfall erholt. Er malte seitdem kein einziges Bild mehr und lebt heute in der offenen Abteilung der Psychiatrie der Karl-Bonhoeffer-Klinik, im Berliner Volksmund auch »Bonnies Ranch« genannt. Kunstkritiker hatten ihm eine große Zukunft prophezeit, trotz aller Kritik, die Desfault ob seiner enormen Expressivität entgegenschlug. Hermann-Josef Richter, führender Experte und Chefredakteur des Kunstmagazins Art, beispielsweise urteilte: »Desfaults Bilder spülen die menschlichen Urängste an die Oberfläche. In seinen Arbeiten mischen sich die Furcht vor Tod,

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