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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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hast Recht«, sagte Beatrice. Aber das ist es nicht, was ich hatte ausdrücken wollen. Die kurze Unterhaltung mit Eadfrith hatte ausgereicht, um ihr klar zu machen, dass sie ihrer Vergangenheit und noch mehr ihrer Zukunft nicht entfliehen können würde.
    Doch wie immer diese Wahrheit ausschauen mochte, sie würde nichts daran ändern, dass diese Frau wie eine Mutter für sie gewesen war. Sie entsann sich der Empfindungen, die sie verspürt hatte, als sie Angela bei ihrer Ankunft in den Armen gehalten hatte. Wärme und Zuneigung, bedingungslose Liebe, Achtung und Respekt. Nein, sie hatte kein Recht, ihrer Tante böse zu sein. Angela hatte nur getan, was ihr aufgetragen worden war. Sie hatte dafür gesorgt, dass Beatrice nach dem Tod ihrer Eltern ein Dach über dem Kopf erhalten hatte sowie unbeschwert und voller Fröhlichkeit heranwachsen konnte zu einer jungen tapferen Frau, die jetzt ihr Schicksal akzeptieren musste – so wie es Angela getan hatte.
    Sie nahm ihre Tante in den Arm. »Angela«, sagte sie, und aus den unbekannten Tiefen ihres Bewussteins stieg ein Entschluss empor. »Was hältst du davon, wenn ich uns beiden etwas Feines zum Abendessen koche?«
    »Wie kommst du darauf?«
    Der ausgedehnte Spaziergang am Strand hatte ihren Appetit angeregt. Sie verspürte Lust auf ein gemeinsames gemütliches Mahl mit ihrer Tante. Und sie wusste, woher auch immer, sie würde ein Abendessen zubereiten können. »Ich glaube, ich hätte Spaß daran.«
    Angela drückte ihre Nichte fester an sich. »Das hattest du schon immer.«
    Beatrice freute sich. »Dann werde ich jetzt ins Dorf gehen und einige Zutaten kaufen.«
    »Aber bitte bleib nicht wieder so lange weg.«
    »Angela!«, rief sie entrüstet aus. »Ich bin doch kein Kind mehr.«
    »Es ist nur… der Sturm.«
    Beatrice war sich da nicht so sicher.
     
     
    Berlin
     
    Philip war nicht überrascht sie wieder zu sehen. Er hatte sogar damit gerechnet. Jetzt war es also so weit. Er wusste, sie stand nicht wirklich vor ihm. Sie war nur eine Vision, eine beklemmende noch dazu, die ihn heimsuchte. Aber nichts geschah ohne Grund, davon war er inzwischen überzeugt. Doch sosehr er sich auf das Ereignis eingerichtet hatte, so hatte er sich dennoch nicht auf diesen Anblick vorbereiten können.
    Lisa stand regungslos in der Tür. Sie sagte kein Wort. Philip verweigerte jeden Gedanken daran, was sie hatte ertragen müssen. Ihr kleiner nackter Körper sprach Bände. Er war mit rostroten Wunden übersät. Die Lippen blutig aufgeschlagen. Am schlimmsten waren ihre Augen, leblos und weiß in den Höhlen. Jemand sagte: »Halt doch endlich still.«
    Für einen Moment verharrte die Zeit. Zumindest kam es ihm so vor. Bis das kleine Mädchen sich in Bewegung setzte. Ungelenk schritt sie auf ihn zu. Unter die Platzwunden und Brandblasen auf ihrer Haut mischten sich grüne und blaue Flecken, erste eitrige Anzeichen der Verwesung.
    Dann stand Lisa vor ihm, streckte ihren kleinen Arm aus und berührte ihn am Kinn. Sie hob seinen Kopf und lenkte ihn.
    Er ließ es geschehen. Die Wahrheit berührte ihn an einer Stelle, die heftiger schmerzte als jede physische Pein.
    Sie ist tot.
    Die Erkenntnis war so überwältigend wie traurig. Er kniete noch immer auf den schmutzigen Dielen. Sein Glück, denn ansonsten hätten seine Beine unter dem Sturm der Empfindungen nachgegeben.
    »Du musst mir helfen«, flehte sie. Ein Toben in seinem Ohr. Verzweiflung. Angst. Aber es war nicht seine Angst. Denn er wusste, er würde ihr helfen. Es würde einfach geschehen. So wie es schon einmal geschehen war, vor 80 Jahren auf dem Ku’damm. Oder vor einer halben Stunde auf dem Hermannplatz. Er war dazu auserwählt. Der Tod war sein Gefährte geworden und gleichzeitig sein ärgster Widersacher. Er akzeptierte es. Auch wenn er nicht verstand, warum es so war.
    Mit einem abrupten Ruck löste sie sich von ihm. Er stöhnte auf, als ihn die Wirklichkeit mit tröstenden Armen empfing. Das Mädchen war weg. Als wäre sie nie da gewesen. Nur die Kälte hing nach wie vor im Zimmer, machte seine Glieder steif und unbeweglich.
    Sein Blick fiel auf eine Kommode. Der gleiche Schrank, den er bereits im Krankenhaus gesehen hatte. Jetzt war es ihm klar. Er hatte den Schrank nicht dort gesehen – er hatte in der Wohnung seiner Großmutter gestanden.
    Er stand auf und ging zu der kleinen Kommode, deren Tür in einem grotesken Winkel abstand. Die Eindringlinge hatten Tassen und Teller mit voller Wucht zerschlagen. Hunderte, tausende

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