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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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wohlbehalten bei dem Mann an und begrüßte ihn überschwänglich. Offensichtlich kannten die beiden sich. Als Beatrice den Angler erreichte, meinte er: »Du bist die kleine Beatrice.«
    Sein Gesicht war von der rauen Meeresluft gegerbt, von der Strandsonne gebräunt. Ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Lippen, die zwischen dem mächtigen grauen Bart nur zu erahnen waren. Doch seine Augen funkelten, als würde er sich lustig machen über den Sturm, der ihn nicht von seinem Felsen pusten konnte, so sehr er sich auch bemühte.
    »Wir kennen uns?«, fragte sie.
    Sein Grinsen wurde noch breiter. Aber es war nicht herablassend, eher ein gutmütiges Feixen. »Ich kannte dich schon, da warst du noch ein kleines Mädchen und hast nackt im Meer gebadet.« Er hielt die Hand auf Hüfthöhe.
    Beatrice musterte ihn ratlos.
    »Du kannst dich nicht erinnern, ich weiß«, meinte er. »Neuigkeiten machen schnell die Runde auf Lindisfarne.«
    Unschlüssig darüber, ob es ihr unangenehm sein sollte, dass sie Gesprächsthema im Dorf war, nickte sie nur.
    »Jeder kennt jeden«, sagte er entschuldigend. Er verdrehte die Augen. »Alte Herrschaften, die sich die Zeit mit Klatsch und Tratsch vertreiben.«
    Die Art, wie er sich und seinesgleichen veralberte, machte ihr den Mann noch sympathischer. Er selbst war schließlich nicht mehr der Jüngste. Aber das war kein Makel. Beatrice mochte das Leben auf dem Dorf, das unverbindliche Geplauder über Gott und die Welt. Vor ihrem geistigen Auge tauchte eine ältere Dame auf, die bei einer Tasse Tee mit einem Stück Wolle und zwei Stricknadeln einen Schal zauberte, dabei das Leben vor ihrem Haus beobachtete. Sogar ein Name schoss ihr durch den Kopf: Miss Barkley. Vielleicht war es eine Erinnerung an ihre Kindheit in Lindisfarne. Sie sagte lächelnd: »So ist das wohl in kleinen Dörfern.«
    »Auf einer Insel noch viel mehr«, erwiderte er und holte die Angel ein. Unter seiner Regenmütze krauste er seine hohe Stirn. Der Köder war zwar abgenagt, aber ein Fisch hing trotzdem nicht am Haken. »Auf Lindisfarne bleibt man unter sich. Das ist nicht immer einfach für die Leute.«
    »Aber es steht doch jedem frei, hier zu leben«, gab sie zu bedenken.
    Er griff in eine Tasche neben sich. Buck schleckte sich bereits die Lefzen. »Tut mir Leid, mein Junge«, sagte der Mann, »das ist nichts für dich.« Er spießte einen Wurm auf den Haken und warf die Angel wieder aus. Er drehte sich zu Beatrice: »Jeder hat einen Grund, warum er auf Lindisfarne lebt.«
    »Natürlich«, sagte sie, »die Insel ist ruhig und idyllisch. Wenn das keine Gründe sind? Es ist ein wunderbarer Ort.«
    »Das auch…« Er rieb sich den grauen Bart. »Aber du weißt auch, dass dies eine heilige Insel ist, oder?«
    Sie nickte. Auf der Fahrt nach Lindisfarne hatte sie in einem Reiseführer davon gelesen.
    »Diese Insel besitzt Magie. Damals, bevor die Wikinger das Kloster des irischen Mönchs Aidans in Schutt und Asche legten, war Lindisfarne eines der wichtigsten Zentren des Christentums. Von Wundern am Grab des heiligen Cuthbert wurde berichtet.«
    »Cuthbert«, wiederholte sie, aber der Name sagte ihr nichts.
    »Er war ein Mönch und ein Wundertäter. Doch er lebte als Einsiedler. Viele im Dorf glauben, dass er Gründe dafür hatte. Welche das waren, wissen allerdings nur die wenigsten.«
    Beatrice hörte aufmerksam zu. Ihre Unterhaltung war längst kein Plausch unter Dörflern mehr.
    »Deine Mutter«, sagte er, »sie wusste, was Cuthbert dazu antrieb, sich vom Rest der Welt zu entfremden.«
    »Sie kannten meine Mutter?«
    Er zog sich die Kapuze vom Kopf und brachte dichtes graues Haar zum Vorschein. »Wer kannte sie nicht?« Er sprach liebevoll wie über einen vertrauten Menschen. »Mit dem Tag ihrer Ankunft auf Lindisfarne war uns allen klar: Sie ist etwas Besonderes.« Die folgenden Worte spuckte er verächtlich aus: »Im Gegensatz zu deinem Vater.«
    Erst jetzt fiel Beatrice auf, dass ihre Tante noch kein Wort über ihren Vater verloren hatte. »Mein Vater? Was ist mit ihm?«
    Doch der Fischer hatte beschlossen, genug dazu gesagt zu haben. Beatrice ärgerte sich. Warum sprachen alle nur in Rätseln zu ihr? Er wechselte das Thema. Zumindest nahm sie das an, bis sie begriff, was er sagte.
    »Aber in unserem Kinderglauben Ließen wir nimmer die Hoffnung uns rauben. Ach, unsre Seelen hofften zu glühend, Ach, unsre Träume waren zu blühend…«
    Atemlos lauschte sie dem Klang der Verse. Ihre Lippen bewegten sich lautlos zu

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