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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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den Worten.
     
    »Und so stehen wir jetzt vor dem Leben,
    Soll uns ernste Antwort geben:
    ›Was von all den ersehnten Dingen
    Hast du gebracht und wirst du uns bringen?‹
    Spricht das Leben: ›Jedem sein Teil.‹«
     
    Nachdem er geendet hatte und sie erwartungsvoll anschaute, fragte sie: »Woher kennen Sie diesen Reim?«
    »Jeder kennt ihn auf Lindisfarne. Schon die Schulkinder lernen ihn.«
    »Also habe ich ihn auch gelernt?«
    »Und ob!«, antwortete er. »Vor allem du. Du und…«
    »Beatrice!«, trug der Wind eine Stimme an ihr Ohr. Ihre Tante mühte sich über die feuchten Steine auf sie zu.
    Erwartungsvoll sah Beatrice den alten Mann an. Und wer?
    Doch er wehrte mit einem Blick auf Angela ab. Nicht jetzt. Kurz darauf stand ihre Tante keuchend neben ihnen.
    »Angela«, lächelte der Angler gezwungen, »mein Engel.«
    »Du Teufel«, versetzte Angela spitz.
    »Ja, ich freu mich auch dich zu sehen«, brummte er in seinen grauen Bart.
    »Was ist denn?«, wollte Beatrice wissen.
    »Ich war in Sorgen um dich. Du wolltest mit Buck spazieren, und jetzt sind schon drei Stunden vergangen.«
    »Aber Angela«, prustete Beatrice.
    »Wie ich sehe, habe ich mir zu Recht Sorgen gemacht.« Sie warf einen missbilligenden Blick auf den alten grauen Mann in seinem gelben Regenmantel. »Ich darf vorstellen: Eadfrith, das Ungeheuer von Lindisfarne.«
    »Damit das klar ist: Jedes schottische Kaff hat ein Anrecht auf sein Ungeheuer«, grummelte er.
    Die Worte und Blicke, die die beiden miteinander tauschten, ließen keinen Zweifel daran: Zu einer anderen Zeit hatten sie mehr als nur den Wohnort geteilt.
    Beatrice deutete eine Verbeugung an: »Hallo Eadfrith.«
    Er zog eine Grimasse und brabbelte in seinen dichten Bart. Diesmal verstand sie es nicht.
    »Und? Hat er dir von seinen Fischfängen erzählt?«
    »Eadfrith erzählte mir…«, setzte Beatrice an.
    »Sehr richtig«, fiel der Alte ihr ins Wort. »Ich habe ihr über das beschissene Wetter, den gottverdammten Sturm und die verfluchten Fische erzählt. Nichts ist auf der Insel mehr, wie es mal war.« Er spuckte abfällig einen Batzen Schleim ins Meer.
    Angela lachte spöttisch auf. »Eadfrith, du änderst dich nie.«
    »Wenigstens einer«, gab er verschnupft zurück. »Und das Wetter. Schaut!« Er wies zum Horizont.
    Über dem Meer brach das Wolkenfeld auf. Überrascht stellte Beatrice fest, dass auch der Wind nachgelassen hatte.
    »Wir haben Glück«, meinte Angela. »Das Wetter wird besser. Morgen Früh brechen wir auf.«
    »Gute Reise«, ließ sich Eadfrith vernehmen, zog die Kapuze wieder über seinen dichten Haarschopf und widmete sich der Angel. Beatrice hätte gerne noch eine Weile mit ihm geredet. Wie nahe stand er ihrer Tante? Was wusste er über ihre Familie, was Angela ihr verschwieg? Doch jetzt, da sie bei ihnen stand, schwieg er kratzbürstig. Er erweckte nicht den Anschein, als wolle er das Gespräch wieder aufnehmen.
    Sie verabschiedeten sich von Eadfrith, und während sie heimliefen, meinte ihre Tante: »Er ist ein komischer Kauz, oder?«
    »Findest du?«
    »Ja«, beschied sie knapp.
    Beatrice konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. »Aber das hast du früher mal anders gesehen, oder?«
    »Merkt man das?«
    »Ja.«
    Ihre Tante errötete. Beatrice war entzückt und gleichzeitig betrübt. Was war zwischen ihnen vorgefallen, dass sie einander wie Katz und Maus begegneten?
    »Angela«, sagte sie und suchte nach den passenden Worten.
    »Was ist, mein Kind?«
    »Hast du keine eigene Familie gehabt?«
    Ihre Tante blieb stehen. »Es hat sich nie ergeben«, sagte sie und bemühte sich um ein ungezwungenes Lächeln.
    »Niemals?«, hakte Beatrice ungläubig nach.
    Angela blickte betrübt drein. »Vielleicht hätte es sich ergeben«, sagte sie. »Männer gab es genug. Aber dann kamst du in mein Leben.« Sie zuckte achtlos die Achseln. »Ein kleiner Wirbelwind, der meine ganze Aufmerksamkeit erforderte.«
    Wieder hatte Beatrice das unbestimmte Gefühl, dass Angela sich an der Wahrheit vorbeimogelte.
    »Die ganze Insel weiß über mich Bescheid«, wechselte Beatrice das Thema.
    »Das darfst du den Leuten nicht verübeln. Sie haben doch sonst nichts anderes. Und wenn dann jemand verunglückt, erkrankt oder…« Sie hielt inne.
    Oder sein Gedächtnis verliert, sag es ruhig.
    Doch ihre Tante meinte nur: »Du weißt doch, wie das ist. Du wirst schnell das Thema Nummer eins – und ebenso schnell haben sie eine neue Geschichte gefunden, und du hast wieder deine Ruhe.«
    »Du

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