Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
Vom Netzwerk:
aber auch nur um ein weiteres Hundebonbon. »Später«, vertröstete sie ihn. Die ersten Menschen wagten sich wieder auf die Straßen. Ein Wagen von Sixt fuhr vorbei. Langsam glitten seine Räder über den verschneiten Asphalt. Eine ältere Dame schlurfte auf den Supermarkt zu.
    Die Wolken hingen nicht mehr so tief über Lindisfarne, stellenweise lösten sie sich auf und stellten einen klaren Abendhimmel in Aussicht. Diese Nacht würde es Frost geben.
    Der Wind trug einen süßen Duft heran, der irgendwie widerlich war. Der Geruch von Fäulnis. Das ist nicht zum aushalten. Es raubte die Sinne. Die Plastiktüte mit den Einkäufen glitt ihr aus den Händen. Paprika, Salat und Wurst landeten im matschigen Schnee. Die Straße, die Häuser, das ganze Dorf verschwammen zu einem undeutlichen Brei vor ihren Augen.
    Buck begann zu knurren. Dann bellte er.
    Was ging hier vor?
    Während sie noch die Frage formulierte, hörte sie ein unheilvolles Flüstern, das zügig anschwoll. Die Welt blieb verschwommen, nur der Gesang war rein und klar, der Gesang von Kindern, die sich näherten. Er verschluckte sogar Bucks wildes Kläffen.
    Plötzlich stand die Greisin vor ihr. Sie war alt, steinalt, bleich und krank, als sei der Tod schon auf ihrer Spur. Sie war Beatrice vertraut, und das machte den Anblick nur noch schlimmer. Es war sie selbst. Es war Angela. Es war ihre Mutter. In ihrem dünnen Kleid musste sie bei diesen Temperaturen frieren. Doch der Winter schien ihr nichts auszumachen, nicht mehr. »Ihr seid in Gefahr.«
    Die Kinder weinten und sangen. Beatrice brauchte es nicht zu verstehen, sie wusste auch so, welche Verse sie rezitierten. Was von all den ersehnten Dingen hast du gebracht und wirst du uns bringen?
    Weitere Wolkenfelder brachen auf, und die Sonne, die über dem Horizont hing, kam zum Vorschein. Ihr grelles Licht raubte Beatrice die Sicht.
    »Beatrice«, drang eine Stimme an ihr Ohr. Nur langsam wich die Blindheit von ihren Pupillen.
    Die Straße lag leer und verlassen, nur Schnee, ganz viel Schnee. Und Buck. Er und Mrs. Margot Buttkamper. Sie hatte Beatrice an den Schultern gepackt und schüttelte sie durch. »Was ist mit dir? Geht es dir gut? Red doch mit mir!«
    Beatrice wollte sich von ihr lösen, doch Margot hielt sie mit ihren starken Fingern fest umschlossen. »Du machst den Eindruck, als hättest du ein Gespenst gesehen!«
    Wenn du wüsstest. »Es ist gut«, beruhigte Beatrice sie und drehte sich in die Richtung, in der das Haus ihrer Tante lag. »Ich muss…«
    »Du musst gar nichts«, hielt Margot entgegen. »Du bist bleich wie ein Hefekuchen. Komm mit in den Laden.«
    »Nein, nein«, wehrte Beatrice ab, während eine Stimme in ihrem Kopf schrillte, dass sie glaubte, ihr Schädel müsste platzen. Ihr seid in Gefahr. Buck schlug scharf an.
    »Ich mach dir einen Kaffee«, sagte Margot, »der bringt dich wieder auf die Beine.«
    Beatrice wand sich aus der Umklammerung der dicken Frau. Sie wollte weg hier, nur weg. Sie begann zu rennen. Der Bobtail lief bereits voraus.
     
     
    Berlin
     
    Zielsicher steuerte Philip durch die Flure der Psychiatrie in Wittenau. Keine sieben Tage war es her, dass er, noch in seiner Funktion als Kurier- Fotograf, in den Genuss einer Führung durch das Klinikgebäude gekommen war. Nicht zu fassen, dass er sich dabei, ohne es zu wissen, in unmittelbarer Nähe einer für sein Leben so wichtigen Person befunden hatte.
    »Bonnies Ranch« bot, wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, in der Cafeteria des Hauses den besten Kartoffelbrei der ganzen Stadt. Doch Hunger verspürte Philip an diesem Mittag nicht. Im ersten Obergeschoss der Karl-Bonhoeffer-Psychiatrie war eine Dauerausstellung über die verabscheuungswürdigen Nazi-Experimente des Namenspatrons jederzeit für Besucher zugänglich. Aber auch wenn er den Schildern zur Ausstellung folgte, ihr galt nicht sein vordringliches Interesse.
    Auf seinem Weg begegnete er keiner Menschenseele. Heute stand den Berlinern der Sinn nicht nach Vergangenheit, der Alltag war grau genug.
    Der Kurier hatte die Fotos, die Philip während der Führung geschossen hatte, nicht veröffentlicht, sondern Agenturbilder verwendet. Den Konflikt, der daraufhin mit seinem Chef, seinem ehemaligen Chef, entstanden war, hatte Philip noch nicht aus dem Gedächtnis getilgt. Ebenso wie das Wissen, dass ein Teil der Türen, die sie auf ihrer Führung durch das Gebäude passiert hatten, nicht fest verschlossen gewesen war – und das, obwohl die Klinikleitung

Weitere Kostenlose Bücher