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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Sicherheitsvorkehrungen keine Rücksicht mehr nehmen konnte. »Finden Sie den Jungen. Das ist meine Anweisung.«
    »Aber ich spreche nicht von dem Jungen.«
    »Von wem dann?«
    »Ich meine die alte Frau.«
    »Vergessen Sie sie…« Bei dem Gedanken, wie Lacie diese Äußerung auffassen würde, fügte er schnell hinzu: »Vergessen Sie sie einfach. Nur vergessen. Nichts anderes. Überschreiten Sie nicht wieder ihre Befugnisse. Sehen Sie einfach zu, dass Sie den Jungen finden. Um alles andere wird sich Cato kümmern.«
    Im Halbdunkel konnte De Gussa nicht genau erkennen, ob Lacie grinste.
    »Und der Pfarrer?«, fragte Lacie.
    »Welcher Pfarrer?«
    »Habe ich Ihnen noch nicht davon erzählt?«
    Nein, das haben Sie nicht, schimpfte de Gussa wortlos. Wieder hatte Lacie ihm etwas verschwiegen. Er unterdrückte seinen Zorn. »Erzählen Sie mir von ihm.«
    »Sein Name ist Jakob Kahlscheuer. Er steht einer kleinen Gemeinde in Berlin vor und ist einer ihrer wenigen Vertrauten.«
    »Vertrauten? Was weiß er?«
    »Nicht wirklich viel«, beschwichtigte Lacie. »Sie hat ihm kaum etwas verraten.«
    »Sind Sie sich sicher?« Bei dem Gedanken, dass es sich womöglich anders verhielt, wurde ihm schlecht.
    »Ja, ich bin mir sicher. Andernfalls hätte ich Sie längst darüber in Kenntnis gesetzt.«
    »Ich will Ihnen glauben.« Es kam ihm schwer über die Lippen.
    »Trotzdem muss ich Sie fragen: Was soll mit ihm werden, nachdem…« Lacie verschluckte die restlichen Worte.
    De Gussa wusste auch so, was er sagen wollte. Er musterte Lacie von oben bis unten. Er trug seinen teuren Anzug wie eine zweite Haut. Kein Schmutzfleck trübte den edlen Stoff, trotz des schmuddeligen Wetters. Kaum vorstellbar, dass hinter dieser sauberen Fassade so eine schmutzige Seele steckte. Allenfalls das Gesicht gab Zeugnis davon, was er alles auf dem Kerbholz hatte, viel mehr, als der Bischof sich in seinen dunkelsten Träumen ausmalen wollte.
    Der Gedanke an einen weiteren toten Priester war schwer zu ertragen. Noch dazu in Deutschland. Berlin war kein Ödland wie Brasilien, wo jeden Tag Menschen verschwanden, ohne dass es jemandem auffiel. Außerdem hatte er keine Ahnung, wer dieser Kahlscheuer war und was Lacie ihm möglicherweise verschwieg. Deshalb sagte er: »Verschonen Sie ihn. Sorgen Sie dafür, dass er irgendwie heil aus der Sache herauskommt. Cato wird sich darum kümmern.«
    Lacie verzog das Gesicht, als er den Namen Cato hörte. »Wie Sie wünschen.« Der Tonfall drückte das Gegenteil aus.
    Lacie versuchte kaum noch den Schein zu waren, und er war auch sicher nicht wegen dieser Frage nach Rom gekommen. Was führte er tatsächlich im Schilde? Diente er überhaupt noch den Interessen des Offiziums?
    Hätte er doch bloß nie Lacie mit dieser Aufgabe betraut! Doch es war zu spät. Und diesmal ahnte er es nicht nur, er wusste, dass ihm die Angelegenheit entglitten war. Cato war seine letzte Hoffnung.
     
     
    Berlin
     
    Philip stemmte sich dem Unwetter entgegen und trat näher. Ritz saß auf der Parkbank, als könnten ihm Wind, Eis und Schnee, die in einer unheiligen Symbiose die Stadt umschlossen, nichts anhaben. Er stierte auf das Eis eines zugefrorenen Teichs, sein Blick war seltsam entrückt, als habe der scharfe Ostwind seine Gedanken längst fortgeblasen. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen – jene Zeichen von Übermüdung und Erschöpfung, die auch auf der Haut von Philips Großmutter zu sehen gewesen waren. Unter seiner dünnen Haut konnte Philip die heftig pochende Schlagader an der Schläfe sehen.
    Schwarze Locken, von grauen Strähnen durchzogen, vom Schnee bedeckt, fielen ihm in die breite Stirn, und es schien ihm unmöglich zu sein, auch nur für einen Augenblick die Hände still zu halten; dauernd zupfte er an seiner Hose oder der dicken Daunenjacke herum und fuhr sich mit den Fingern übers Gesicht. Auf Philip machte es den Eindruck, als würde er von einem Geist verfolgt. Vielleicht sorgte die ständige Bewegung aber auch nur dafür, dass er nicht erfror.
    Als Philip dicht vor ihm stand, begann Ritz zu lächeln. »Du bist es«, sagte er, und es klang nicht so, als formten seine Lippen die ersten Worte seit fünf Jahren. Seine Augen begannen zu strahlen.
    Diese Augen… Philip war es, als habe er sie schon einmal gesehen und… dieses Lächeln… geschworen, es niemals zu vergessen.
    »Meine Mutter hat mir ihr Leben lang von dir erzählt«, sagte Ritz, und seine Finger kratzten über die Hose. Sie war triefend nass vom Schnee.
    Philip

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