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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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nickte versonnen. Die Ähnlichkeit war zu eindeutig, als dass er sich hätte irren können. Er hatte Ritz’ Mutter das Leben gerettet, Mittwochnacht – vor 80 Jahren. Und ihr Sohn hatte ihm das Leben gerettet.
    Es gab keinen Grund, die Zeitungsberichte anzuzweifeln, auch wenn die Ereignisse urplötzlich Ausmaße annahmen, die das Begreifliche überstiegen. Allein bei dem Versuch, es sich vorzustellen, wurde ihm schwindelig. Deshalb ließ er es bleiben. Aber welch gewaltiger kosmischer Plan vollzog sich hier?
    »Ich habe ihr nie Glauben geschenkt«, fuhr Ritz fort. Es schien ihn nicht zu stören, dass sie einander nicht vorgestellt hatten. »Ein Lebensretter in der Not.« Mit der linken Hand fuhr er sich durchs Haar, streifte die Schneeflocken ab. Sofort fielen neue herab und eroberten das Feld zurück. Wie konnte er bei diesem lausigen Wetter bloß draußen sitzen? »Sie hätte den Tod schon gefühlt. So nahe sei sie ihm gewesen. Es klang alles so… absurd.«
    »Das kenne ich«, meinte Philip freudlos.
    »Bis zu jenem Tag, an dem ich diesen Mann traf.«
    »Einen Mann?« Philip horchte auf. Die krächzende Stimme seiner Großmutter hallte in ihm nach. Du musst ihn treffen. »Wen?«
    Ritz führte die Finger an die Schläfen, und zum ersten Mal hielt er sie still. »Hm«, machte er, und es hörte sich an, als würde er angestrengt überlegen, »wenn ich es bedenke, er hatte Ähnlichkeiten mit dir.«
    »Wer war er?«
    »Ich weiß nicht.« Die Hände setzten sich wieder in Bewegung, diesmal sah es so aus, als wollten sie den Schnee vertreiben. Oder irgendetwas, was hinter den weißen Schleiern lauerte. Das Eis im Teich knirschte.
    »Mein Vater?« Auch Philip bewegte sich, trat von einem Fuß auf den anderen. Mit seinen Fingern massierte er sich die Glatze. Ein Königreich für Kens hässliche Bommelmütze.
    »Nein, nein, dein Vater war es nicht. Ihn lernte ich erst später kennen.«
    »Wer dann?«
    »Ich weiß nicht. Er hat sich mir nicht vorgestellt. Aber… er war sehr überzeugend.«
    »Worin?«
    »Er kam zu mir und fragte mich, ob ich bereit wäre, etwas sehr Wichtiges zu tun. Natürlich konnte ich mit dieser Aussage nichts anfangen, selbst nachdem er mir erzählt hatte, was ich zu tun hätte. Ich sollte…« Er hustete. Das viele Sprechen bereitete ihm Mühe. Kein Wunder, wenn man jahrelang keinen Ton über die Lippen brachte und stattdessen bei Wind und Wetter im Park saß.
    »Ja?«, drängte Philip.
    »… ich sollte dich retten.«
    »Das hat er gesagt?« Philip wusste nicht, ob er Ritz glauben sollte oder nicht. Wenn es stimmte, dann lag hinter diesen schlichten Worten eine weitere bedeutungsvolle Wahrheit. Er, Philip, war nicht alleine mit seiner Gabe.
    Der Abend rückte näher, Laternen entlang der Parkwege leuchteten auf. Nicht weit von ihnen gingen die roten, grünen, gelben Adventslichter an, mit denen eine Tanne geschmückt war. Sie begehrten mit warmen Farben gegen den Winter und seine frostigen Boten auf. Tatsächlich ließen sie die Schneeflocken im Umkreis des Baumes glitzern. Ein verführerisches Blinzeln, als wollten sie sagen: Begib dich in unsere Hand, vertrau uns einfach.
    Als Philip Ritz in die Augen sah, lag kein Fünkchen Arglist oder Tücke in seinem Blick, nur die Angst eines alten Mannes vor dem nahenden Tod. »Er wusste von dem Unfall?«
    »Ich weiß nicht, woher er es wusste. Aber er wusste es. Er wusste wo, wann, wie es zu diesem Unfall kommen würde. Aber es war ja auch kein Unfall.«
    »Es war kein Unfall?« Philip sog scharf die Luft ein. Seine Zunge verwandelte sich in einen Gletscher.
    »Nein.«
    Wenn es kein Unfall war … »Was war es dann?«
    »Kannst du dir das nicht denken?«
    Philip wollte nicht darüber nachdenken. Es würde die ganze Angelegenheit nur noch komplizierter machen. Es gab so viele andere Dinge, die er erfahren wollte.
    »Ich habe lange überlegt, obwohl mir nicht mehr viel Zeit blieb. Mir war klar, dass es unter Umständen mein eigenes Leben gefährden würde. Aber… ich stand in deiner Schuld…«
    »Das standen Sie nicht«, meinte Philip kaum hörbar. Der Wind, der durch das Geäst der Bäume pfiff, war lauter.
    »Hatte ich eine andere Wahl? Ich weiß es nicht, ich glaube nicht. Nicht nach dem, was passiert ist. Und es ist egal, ob ich es kapierte, was ich sicher weiß, ist, dass alles einem höheren Plan folgt.«
    Philip schwieg beklommen.
    »Jedenfalls erwischte der Wagen mich, nicht dich. Ich glaube, danach war ich tot, zumindest für einige Sekunden. Und

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