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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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was ich sah…« Er atmete schwer. Nach wie vor waren seine Finger mal hier, mal dort, immer aber unterwegs. »Ich möchte nicht darüber sprechen. Ich habe viel zu oft darüber gesprochen.« In seiner Stimme lag Traurigkeit. »Ich habe schon lange nicht mehr darüber nachgedacht. Auch die Träume verschonen mich inzwischen. Eine Gnade, das kannst du mir glauben.«
    Philip glaubte es ihm. »Was geschah dann?«
    »Was in solchen Momenten immer geschieht. Die Leute sind erst interessiert, dann amüsiert, sie wollen es nicht mehr hören, dann können sie es nicht mehr hören, sie sind genervt, schließlich wütend. Zuletzt zweifeln sie an deinem Verstand. ›Ihm sind seine Bilder zu Kopf gestiegen‹, war noch das Harmloseste, was sie mir sagten. Dabei waren die Bilder, meine Fantasien, der Schlüssel. Glaube ich zumindest.«
    »Ich kenne Ihre Bilder nicht.«
    »Du hast nichts verpasst.« Er wedelte abfällig mit der Hand. »Sie sind nichts wert.«
    »Ich habe etwas anderes darüber gelesen.«
    »Junge!«, fuhr Ritz ihn an. Er warf die Arme in die Luft, als gelte es, einen Geist zu vertreiben. Oder Erinnerungen. Oder nur den Schnee. »Lass es dir gesagt sein.« Er betonte jede Silbe. »Sie… sind… nichts… wert. Sie sind nur Fantasie. Kranke Fantasie, zugegeben. Aber sie sind harmlos. Kein Vergleich zu dem, was…« Resigniert ließ er den Kopf hängen. »Ich gab keine Ruhe. Es wurde zu einem Wahn. Niemand wollte mehr etwas mit mir zu tun haben. Ich konnte die Miete nicht mehr bezahlen, saß auf der Straße. Mein Bruder hat mich entmündigt. Ich landete in einer geschlossenen Anstalt, wo man zu dem Ergebnis kam, dass ich dort nicht hingehörte. Seitdem bin ich auf Bonnies Ranch. Witziger Name, oder? Irgendwann merkte ich, wie gut es mir hier eigentlich geht. Ich erkannte, dass ich das, was ich erlebt hatte, besser für mich behielt. Seitdem lebe ich in Frieden. Und warte. Warte auf den Tod. Und auf dich.«
    Sein Kinn fiel auf die Brust und versank in dem weißen Pulver, das sich auf der Daunenjacke wie eine Decke ausbreitete. Seine Stimme wurde leiser, gedämpft durch den Schnee. »Ich weiß nicht, ob ich mich darauf freuen soll. Auf den Tod, meine ich. Mein Leben ist vorbei, aber nach allem, was ich gesehen habe… Aber habe ich eine andere Wahl? Es läuft immer auf die eine Antwort hinaus: Nein, habe ich nicht!«
    Ein Windstoß kam und fegte den Schnee wie einen Vorhang für einen Augenblick beiseite. Ritz’ Gesicht war erstmals klar und deutlich zu sehen, und Philip erkannte ein Wissen darin, über das er inzwischen selbst verfügte: dass es auf dieser Welt mehr gab, als nur das, was man mit den Augen sehen, den Ohren hören, den Händen ertasten konnte. Viel mehr. Philip holte Luft. »Das ist wohl wahr.«
    »Du spürst es auch, oder?«
    »Was?«
    »Etwas ist im Anmarsch.«
    »Was?«
    Ritz sah zum Himmel, an dem Dunkelheit heraufzog. Der Schnee sickerte ohne Pause herab, begrub die Welt unter einem weißen Tuch. Ein Leichentuch.
    »Es ist kalt«, sagte Ritz.
    »Ja«, stimmte Philip zu. Durch das fahle Buschwerk und die blattlosen Hecken warf er einen Blick auf die Straße. Die Autos wälzten sich wie eine Lawine voran. Menschen schritten vorbei, nur langsam, weil die glatten Gehwege Hast nicht mehr zuließen. Es wirkte, als würden sie, sobald sie stehen blieben, sofort und für alle Zeiten am Boden festfrieren. Der Winter hatte die Stadt endgültig im Würgegriff.
    »Und es wird noch kälter«, sagte Ritz.
    »Die Meteorologen sprechen von einem Jahrhundertwinter.«
    »Scheiß auf die Meteorologen. Wir wissen es besser. Das ist kein Winter. Das ist etwas, das…«
    Philip schaute ihn aufmerksam an. Ritz’ Kopf sackte abermals herab. Wenn das kein Winter war, was dann? Etwas, das…
    »… viel schlimmer ist«, beendete Ritz seinen Satz.
    »Was soll das heißen?«, sagte Philip. »Bedeutet das, es hat auch mit mir…« Nein, es war anmaßend anzunehmen, auch das Wetter habe mit ihm und den Ereignissen der letzten Tage zu tun.
    Doch Ritz nickte ernst. »Es hat alles mit dir zu tun.«
    »Was hat mit mir zu tun?«, flüsterte Philip. Er schlotterte, nicht nur vor Kälte.
    »Ich wusste schon damals nicht, was es ist. Damals, als ich dich gerettet habe. Ich weiß es bis heute nicht. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es wissen möchte. Ich weiß nur, etwas ist wieder im Gange.«
    Sie schwiegen. Irgendwann räusperte Philip sich. Aber da war Ritz bereits eingeschlafen. Endlich saß er vollkommen still. Das

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