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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Philip, komm mir nicht so. Niemand kann nichts verstehen. Wenn man nur will, kann man alles verstehen.«
    »Ist das Soziologenweisheit?«
    »Das ist Kens Weisheit.« Er nahm einen Schluck von seinem Drink. »Bullshit, keine Ahnung, wessen Weisheit das ist. Das ist mir gerade nur so eingefallen.«
    »Klang aber ganz nach dir.«
    »War das jetzt ein Lob?«
    »Ja.«
    »Danke.«
    »Bitte.«
    Sie sprachen nicht viel. Wann immer ihre Gläser leer waren, sorgte Ken stillschweigend dafür, dass sie wieder mit Wodka und Lemon gefüllt waren. Zwischendurch gingen sie abwechselnd aufs Klo und leerten ihre Blase.
    Nach einer Stunde gelangte die CD an ihr Ende. Der Player knarrte leiser, als der Laser in seine Startstellung zurückfuhr. Stille eroberte das Wohnzimmer. Vereinzelt drang das verhaltene Knirschen von Autoreifen im Schnee ins Wohnzimmer. Aber es hätte auch das Rauschen des Alkohols in ihrem Blut sein können. Es wird noch kälter. Das ist kein Winter. Die erste Straßenbahn fuhr erst wieder gegen 5 Uhr. Aber dafür wollte Philip seine Hand nicht ins Feuer legen.
    Da ist etwas, das viel schlimmer ist. Wie schlimm würde es werden? Philip mochte nicht daran denken.
    »Weißt du, Ken«, sagte er nach einer Weile, »ich wünschte mir, das alles wäre nicht passiert.«
    »Ich kann dir ‘ne Stunde mit dem Baseballschläger auf den Schädel hämmern, bist du glaubst, es wäre nicht passiert.«
    Philip lachte. »Gute Idee.«
    »Stammt nicht von mir. Ist von Bender aus Futurama.«
    »Du bist heute ein Zitatenkönig, scheint mir.«
    »Und was sollte nicht passiert sein?«
    Philip sah ihn an. »Alles. Von Anfang an.«
    »Rede Klartext.«
    Philip begann zu erzählen. Er berichtete von seiner sonderbaren Begegnung auf dem Ku’damm, von den Fotos, auf denen nichts zu sehen gewesen war, von dem Mord an dem Fotografen, von seiner Flucht, den Visionen, die ihn durch die Zeit katapultierten – und von der Rettung der jungen Frau im Berlin vor 80 Jahren. Ken hörte ihm zu, unterbrach ihn nicht ein einziges Mal.
    Philip erklärte seine Flucht aus dem Gefängnis, schilderte den Besuch bei seiner Großmutter, den Einbruch in ihre Wohnung und das, was er dort vorgefunden hatte: ein Chaos, weil jemand vor ihm da gewesen war. Er ließ auch nicht die schrecklichen Bilder aus, die ihn heimsuchten, sobald ihn jemand berührte. Die Visionen der Toten. Kens Augen wurden größer und größer. Noch immer sagte er keinen Ton.
    Philip bedeutete ihm, dass sein Glas leer war. Ken erhob sich und schenkte nach. Als er wieder saß, fuhr Philip fort: »Du weißt, als ich ein kleiner Junge war, ist meine Mutter gestorben.«
    Ken nickte. »Bei einem Autounfall. Du hast überlebt.«
    »Richtig. Gestern habe ich erfahren, dass dieser Unfall gar kein Unfall war. Es war Mord. Jemand hat versucht, mich umzubringen.«
    »Aber er hat es nicht geschafft. Denn sonst wärst du nicht hier bei mir.« Er runzelte die Stirn. »Aber wer hat dir das erzählt?«
    »Der Mann, der mich damals gerettet hat.«
    »Wer?«
    »Eduardo Desfault, ein Künstler.« Er fügte hinzu: »In der Wohnung meiner Großmutter habe ich einen Hinweis auf ihn gefunden. Früher nannte man ihn Ritz.«
    »Chris kennt ihn bestimmt.« Ken verstummte, als er Philips betroffene Miene sah.
    »Doch das Entscheidende daran ist: Jemand hat ihm davon erzählt, dass man versuchen würde, mich umzubringen.«
    »Woher hat dieser Jemand das gewusst?«
    »Das konnte Ritz mir nicht sagen. Aber darum geht es nicht.«
    »Worum denn dann?«
    »Ich bin davon überzeugt, dass dieser Jemand, der damals Ritz gewarnt hat, der gleiche Mann ist, der jetzt versucht, mich zu warnen.«
    »Der mit den Euromünzen?«
    »Vielleicht.« Ihm gingen die Worte seiner Großmutter durch den Kopf. Du musst ihn treffen. »Vielleicht versucht er mit mir in Kontakt zu treten.«
    »Mit Euromünzen?«
    »Du wiederholst dich.«
    »Sorry. Aber ich könnte mir vorstellen, dass es einfachere Methoden gibt, mit jemandem in Kontakt zu treten, als mit einem Geldstück.«
    Philip sinnierte einen Augenblick. »Vielleicht muss er vorsichtig sein.«
    »Na klar! Bloß gut, dass er genügend Kleingeld dabei hat.«
    »Ken, piss doch einfach die Wand an!«
    »Gute Idee.« Er sprang auf und wankte ins Badezimmer. Ein durchdringendes Plätschern erschütterte die Stille.
    Philip rief sich die Situation von vor anderthalb Stunden in der Küche in Erinnerung, seine Panik, seine übertriebene Reaktion mit dem Licht. Als Ken zurückkam, sagte er: »Ich gebe zu,

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