Schwester der Toten
Sie beugte sich über die Hecke, soweit es ihre kranke Hüfte zuließ. Schnee rieselte vom oberen Rand herab und wurde eins mit dem weißen Flor auf dem Gehsteig. Im Flüsterton sagte sie: »Wie ich schon der Polizei erklärt habe, der arme Paul hat sich nicht umgebracht. Aber…«
»Wie kommen Sie darauf?«
»… mir glaubt ja keiner. Wer glaubt schon einer alten Schachtel wie mir?«
»Miss Barkley, was wollen Sie damit sagen?«
Die Rentnerin rückte noch näher. Es fehlte nicht mehr viel und sie wäre durch die Hecke getreten. »Wissen Sie, ich schlafe nicht mehr gut, seit mein Mann von mir gegangen ist. Der arme Arthur, einfach eingeschlafen ist er. Der liebe Gott habe ihn selig, ja, das hoffe ich für ihn. Arthur war ein guter Mann.«
»Miss Barkley, bitte.«
»Ja, ja, mein Kleines, Sie haben Recht. Also gestern Morgen, als ich am Fenster saß und meinen Tee trank… Meine Nieren sind nicht mehr die besten, müssen sie wissen. Den Tee hat mir mein Arzt empfohlen, Sie kennen ihn ja, Dr. Ridgefeld. Wie ich also sagte, das mache ich gerne, meinen Tee trinken und zuschauen, wie die Welt draußen erwacht.« Sie senkte ihre Stimme noch einmal und war jetzt kaum noch zu verstehen. »Und dabei habe ich diesen Mann gesehen.«
»Einen Mann?«
»Einen Priester.«
»Sind Sie sich sicher?«
»Aber bitte«, rief Miss Barkley empört aus. »Reicht es nicht, dass Scotland Yard meinen Worten nicht glaubt?«
»Und was war mit dem Priester?«
»Er schlich sich in Pauls Wohnung.«
»Er schlich?«
»Naja.« Sie wackelte mit dem Kopf, und die Schneeflocken links und rechts von ihrem grauen Haar tanzten dazu. »Geschlichen ist er vielleicht nicht. Aber er hat zumindest viel Wert darauf gelegt, dass niemand seine Anwesenheit bemerkt.« Sie strahlte über beide Backen. »Aber er konnte ja nicht ahnen, dass ich meinen Tee trinke, meinen Blasen- und Nierentee, der mir…«
»Und was hat der Priester gemacht?«
Miss Barkley trat einen Schritt zurück. Ihre Augen wurden riesig. »Aber das weiß ich doch nicht. Ich bin ja nicht dabei gewesen. Irgendwann ist er wieder abgefahren. Ein paar Stunden später habe ich erfahren, dass Paul tot ist.«
Mit einem Stöhnen richtete die alte Dame sich wieder auf. Sehen Sie, brachte ihre Miene zum Ausdruck, was habe ich Ihnen gesagt?
Beatrice erwiderte nichts. Ein Priester? Vielleicht hatte sich Miss Barkley in diesem Punkt getäuscht. Ihre alten Augen waren bestimmt nicht mehr die besten, vor allem bei diesem Wetter. Aber dass es diesen Mann tatsächlich gegeben hatte, bezweifelte Beatrice keinen Augenblick. Ein ungutes Gefühl sagte ihr sogar, dass es sich um die gleiche Person handeln mochte, die auch ihre Tante auf dem Gewissen hatte. Möglicherweise war es sogar Paul gewesen, der den Mörder auf ihre Spur gebracht hatte. Ein Grund mehr, nicht länger zu zaudern. Sie musste ohne Aufschub handeln, bevor man auch sie fand.
Sie wünschte Miss Barkley noch einen schönen Tag und machte sich davon. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie den Atem der Verfolger in ihrem Nacken zu spüren. Das ist nur der eisige Wind. Sie widerstand dem Drang, sich umzusehen.
Berlin
»Sie schon wieder.«
Die Stimme der Krankenschwester mit dem polnischen Akzent klang durch den kleinen Lautsprecher unter der Klingel müde und alles andere als überrascht.
Es dauerte lange, doch schließlich ging der Summer, und Philip konnte die Sicherheitsschleuse zur Intensivstation des Jüdischen Krankenhauses betreten. Kurz darauf öffnete sich auch die Tür am anderen Ende. Ein grüner Kittel tauchte auf. Die Erschöpfung hatte sich während der Nachtschichten tief in das Gesicht der Pflegerin gegraben. Das Haar hing ihr immer noch in einem Zopf vom Kopf.
»Dachte ich’s mir doch, dass Sie noch einmal wiederkommen«, sagte sie ohne eine Begrüßung.
»Ich wollte hören, wie es meiner Großmutter geht«, erwiderte Philip kleinlaut. Er wahrte einen sicheren Abstand zur Pflegerin.
»Ich sollte Sie aus der Klinik werfen lassen«, erklärte sie, während sie sich über den grünen Kittel strich. »Es war unverantwortlich, was Sie gemacht haben.«
»Ich weiß.«
»Nicht nur Ihrer Großmutter gegenüber. Sie hätten auch die anderen Patienten auf der Station in Lebensgefahr bringen können.« Sie klemmte sich eine Strähne, die sich widerborstig aus dem Haarknoten gelöst hatte, hinters Ohr. »Ganz abgesehen davon, dass sie ohnehin schon in Lebensgefahr schweben.«
»Es tut mir Leid«, sagte er. Ob
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