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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Vorschein.
    »Es ist kalt draußen«, sagte sie, während sie ihm die hässliche Strickware reichte.
    Er nahm die Mütze mit einer schnellen Bewegung entgegen. Nichts geschah, Gott sei Dank.
    »Hören Sie…« Philip fasste einen Entschluss.
    »Ja?«
    Er brauchte einige Sekunden. Dann sagte er: »Passen Sie auf sich auf!«
    Ihre Augenbrauen senkten sich zweifelnd. »Wie bitte?«
    »Auf den Straßen. Achten Sie in Zukunft auf den Verkehr. Bitte.« Ohne ihre Reaktion abzuwarten, drehte er sich um und verließ die Klinik. Er sehnte sich nach seiner Freundin, ihren blauen Augen, ihrer Schulter, ihrem warmen Körper. Chris war seine Familie gewesen.
     
     
    Berlin
     
    Jakob Kahlscheuer sah die Jugendlichen zu spät. Plötzlich quollen sie wie Unrat aus einer Schneeböe und umringten ihn: vier, fünf oder sechs Halbwüchsige, so genau konnte er es in dem Durcheinander der Körper nicht erkennen, die ihn wie einen Ball im Kreis umherstießen. Jeder Schlag steigerte den Schmerz in seinen Gelenken, doch er wehrte sich nicht, vertraute ganz darauf, dass sie irgendwann das Interesse an ihm verloren.
    Ein Schlag traf seinen Unterkiefer. Seine Zähne gruben sich in die Zunge, die er nicht mehr rechtzeitig zurückziehen konnte. Eine Faust traf seinen Arm. Das Zittern in seinen Fingern wurde übermächtig, die Tüte mit den Büchern aus der Bibliothek entglitt ihm. Jemand lachte.
    Endlich gelang es ihm, einen der Angreifer beiseite zu stoßen. Er nutzte den plötzlichen Freiraum und lief los. Nur wenige Schritte weiter rutschte er auf einer gefrorenen Pfütze aus. Ein dumpfer Laut ertönte, als er auf den Asphalt stürzte. Aus den schnellen Schritten hinter ihm entnahm er, dass die Jugendlichen sich aus dem Staub machten.
    Nur mühsam gelang es ihm, sich zu erheben. Seine Glieder protestierten gegen die Anstrengung. Bestürzt stellte er fest: Niemand war ihm zur Hilfe gekommen. Das war das Schlimmste von allem. Er dachte an das Gespräch mit Eleonore. Waren das die bösen Geister, von denen sie gesprochen hatte?
    Hinkend sammelte er die Bücher ein, steckte sie in die Tüte und lief, so schnell es seine gequälten Glieder zuließen, zum Pfarramt. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als in die warme Stube zu treten und zu vergessen, nicht nur das demütigende Erlebnis von vor wenigen Minuten. Nein, auch seine Schmerzen, die Zweifel, seine Ängste. Einfach alles.
    Er war erstaunt, eine alte Frau in der Zufahrt stehen zu sehen, notdürftig in das weiße Nachthemd eines Krankenhauses und einen dünnen Mantel gehüllt. Vor ihm stand Eleonore Berder. »Was machen Sie denn hier?«, entfuhr es ihm und er vergaß seine klagenden Gelenke. »Sie bringen sich ja um. Sie müssen zurück ins Krankenhaus.«
    »Nein, ich gehe nicht zurück!«
    Er trat einen Schritt nach vorne und entriegelte die Tür zum Pfarrhaus.
    »Ich muss mit Ihnen reden, es ist wichtig…«, sagte sie, während sie in den Hausflur traten. Abrupt blieb sie stehen. In der Diele stand ein Mann, groß gewachsen, in einem sündhaft teuren Anzug, sein Gesicht von einem Narbenmosaik entstellt.
    »Wer sind Sie?«, fragte Kahlscheuer überrascht. »Wer hat Sie hereingelassen?«
    Der Mann antwortete nicht. Er schenkte ihm nicht einmal Beachtung. »Guten Tag Frau Berder«, sagte er nur.
    Die Greisin wich zurück bis auf den Bürgersteig. Ihre Augen waren aufgerissen und ihre Hände zitterten. »Lacie, Sie!«
    »Tun Sie nicht so, als wären Sie überrascht.«
    »Was wollen Sie?«
    »Sie wissen ganz genau, was ich will.«
    »Sie werden ihn nicht bekommen. Sie werden nichts bekommen.«
    Lacie trat auf sie zu. Sie wich einen weiteren Schritt zurück. »Erinnern Sie sich noch an den Ku’damm?«, lächelte er. »Da haben Sie ihn verraten. Wir wussten, Sie würden ihn nicht ewig vor uns beschützen können.«
    »Und trotzdem werden Sie ihn nicht kriegen!«
    »Oh doch.« Lacie lächelte versonnen, als plauderte er mit einer guten Freundin über vergangene bessere Zeiten. »Wir haben Ihren Mann gekriegt, erinnern Sie sich noch?« Ihre Schultern sackten herab. Sie erinnerte sich. »Und auch Philip wird uns ins Netz gehen. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
    »Pah«, stieß sie verächtlich hervor. Es klang wie ein asthmatisches Husten. »Der Junge wird seinen Weg gehen, auch ohne mich.«
    »Um was geht es hier?«, rief Kahlscheuer, der kein Wort verstand. Niemand nahm Notiz von ihm. Er beschloss zu handeln. Er trat auf die alte Frau zu, wollte sie zurück ins Pfarramt führen, doch sie

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