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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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davonrannte. Aber er wusste zu wenig über das kleine Mädchen. Er wusste gar nichts. Außer dass sie sterben würde. Oder dass es schon zu spät war. Warum war die Vision diesmal nicht so klar wie beim ersten Mal?
    Nachdenklich kehrte er zurück zu seinem Platz. Zu den Kopfschmerzen gesellte sich ein heftiges Schwindelgefühl. Schnell setzte er sich hin. Die junge Frau sah ihn besorgt an. Er verdrängte den Gedanken daran, wie er auf die Leute wirken musste. Wie einer von denen, über die Ken immer seine Witze machte. Die Gestörten von Berlin.
    Der Geschäftsmann mit der Aktentasche drehte sich zur Tür. Die türkische Mutter drückte ihr Kind noch fester an sich und vermied es, ihn anzusehen. Natürlich, bloß nicht hinschauen. Der Betrunkene war erwacht. »Hast du ‘nen Euro?«, nuschelte er.
    Philip grub seine Finger in die Hosentasche. Er fand zwei Münzen. Beide trugen die Jahreszahl 2018. Er überlegte nicht lange, nahm eine und warf sie dem Penner in die Hand.
     
     
    London
     
    »Das kann ich nicht gestatten!«, sagte der vornehme Schalterbeamte in vornehmen Englisch und befreite seinen vornehmen Anzug von nicht vorhandenen Falten. Er war schmächtig und bleich, vielleicht 19 oder 20 Jahre alt, hatte vor kurzem erst die Banklehre absolviert und wirkte in dieser Minute hoffnungslos überfordert. Da halfen auch seine affektierte Sprache und der teure Anzug nichts.
    Beatrice starrte ihn wütend an. Er errötete und schrumpfte in seinem Zweireiher merklich zusammen. Ihr Blick suchte ein unverfänglicheres Ziel und fand einen kleinen Weihnachtsbaum, der, behangen mit einer roten und einer blauen Christbaumkugel und zwei Streifen Lametta, am Rand der Kundentheke aufgestellt war. Niedlich, wirklich niedlich, beruhigte sie ihr erhitztes Gemüt. Freuet euch, es weihnachtet.
    Bereits als der Nachtbus am frühen Morgen die Randbezirke Londons erreicht hatte, war ihr der Adventsschmuck in den Geschäften und Häusern aufgefallen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, die blinkenden Sterne und den bunten Schmuck bei ihrer Abreise vor drei Tagen gesehen zu haben. Aber damals war sie mit ihren Gedanken auch woanders gewesen.
    Schade eigentlich, denn während der Bus an den glitzernden Fenstern vorbeigeglitten war, hatte sich ein Gefühl der Nähe und Wärme eingestellt, das die Ankunft in London zumindest teilweise erträglich hatte werden lassen. Doch jetzt hätte sie den kleinen Tannenbaum am liebsten gepackt und ihn dem sturen Bankbeamten mit der Spitze zuerst in den… Nein, unterbrach sie den neuerlichen Ansturm. Das führt zu nichts.
    »Hören Sie«, sagte sie betont ruhig, »der Hund gehört zu mir.«
    »Das habe ich verstanden«, erwiderte der Junge, nach wie vor um Höflichkeit bemüht.
    »Genauso wie das Schließfach zu mir gehört.« Vor ihm lagen ihr Ausweis und der Schlüssel zu dem Schließfach.
    Mit einem Blick darauf meinte er: »Auch das ist mir nicht entgangen.« Seine Stimme schwankte keinen Deut. Höflichkeit schien ihm in der Ausbildung bei der Royal Bank of Scotland im Übermaß eingeflößt worden zu sein. Nicht beigebracht hatte man ihm jedoch, wie man eine Kundin abfertigte, deren Wunsch man nicht erfüllen konnte, die aber trotzdem nicht gehen wollte. Sein Blick irrte nervös durch den großen Schalterraum. Die Schlange hinter Beatrice reichte inzwischen bis draußen auf die Straße, wo es schneite und stürmte.
    Beatrice hatte gute Gründe für ihre Hartnäckigkeit. Es hatte sie den halben Tag gekostet herauszufinden, in welcher der zwölf Filialen der Royal Bank of Scotland sich ihr Schließfach befand. Jetzt, da sie es wusste, wollte sie auf keinen Fall unverrichteter Dinge abziehen. Sie durfte keine Zeit mehr verlieren, nicht nach allem, was vorgefallen war.
    Sie wagte einen neuerlichen Anlauf. »Also gehe ich jetzt zu meinem Schließfach, gemeinsam mit meinem Hund, ganz egal, was ihre Vorschriften dazu sagen.«
    Sie wollte Buck nicht alleine auf der Straße zurücklassen, nicht inmitten der röhrenden Busse und Autos, der stickigen Abgase, der gestressten Menschen und anderer Gefahren, die er nicht kannte.
    Der junge Mann in seinem Anzug räusperte sich. »Das kann ich nicht gestatten.«
    »Das habe ich verstanden. Aber es ist wichtig. Es ist verdammt noch mal wichtig.« Ihre Stimme gewann an Schärfe – und an Lautstärke. Sie zügelte sich. Sie verspürte wenig Lust, Aufmerksamkeit zu erregen. Weiß der Teufel, wer sie alles beobachtete. Hör auf, sagte sie sich, werd jetzt nicht

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