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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Neukölln. Die Heizungen in den Waggons waren scheinbar bis zum Anschlag aufgedreht; man hätte annehmen können, es wäre Sommer. Nur die verschnupften Menschen, eingepackt in ihre Stiefel, Wintermäntel, Schals und Handschuhe, offenbarten die Jahreszeit.
    Während sie durch den Untergrund von Neukölln jagten, blätterte er im Kurier, den er an einem Kiosk erstanden hatte. Auf den Panoramaseiten fand er tatsächlich einen kleinen Bericht: Fotograf noch immer auf der Flucht! Im Text selbst war kein Hinweis zu finden, dass er einmal als Volontär bei dem Boulevardblatt gearbeitet hatte. Anscheinend war die Redaktion der Ansicht, es würde in der Öffentlichkeit keinen guten Eindruck machen, wenn sie zugaben, einmal einen Mörder beschäftigt zu haben. Der Bericht war mit keinem Bild illustriert.
    Beruhigt legte er die Zeitung beiseite und rieb sich die Hände. Es war bitterkalt geworden. Die Bahn raste vorwärts, irgendwie viel zu schnell. Eigentlich hätten sie längst in einen Bahnhof einfahren müssen. Dann stellte er fest, dass der Waggon bis auf ihn vollkommen leer war. Die Situation war seltsam unwirklich. Fehlte nur noch, dass die Beleuchtung ausging. Und wieder an. Schwarz und gelb.
    Das Licht blieb an. Sie saß am Ende des Waggons. Sie schaute auf ihre Hände, und ihre Haare verdeckten das Gesicht. Ihre Arme hingen schlaff an den Seiten ihres nackten Körpers herab. Auf den Boden zu ihren Füßen tropfte Blut.
    Er stand auf und ging zu ihr. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand und welcher U-Bahnhof der nächste war. Vielleicht würden sie für lange Zeit an keiner Station mehr halten. Die Erfahrung sagte ihm, dass nicht nur Träume, sondern auch Visionen nach eigenen Regeln funktionieren. Reisen durch die Zeit erst recht.
    Kurz bevor er sie erreichte, hob sie den Kopf. Er sah die Verzweiflung in ihren Augen.
    Der Zug passierte eine Weiche, die sich kreuzenden Gleise schüttelten die Waggons durch. Philip rang um Gleichgewicht. Indem er nach einem Haltegurt griff, fing er seinen Sturz ab.
    Als er seinen Blick wieder dem Mädchen zuwenden wollte, prallte der Wärmeschwall der Heizungen wie eine Faust gegen seine Schläfen. Er hatte den Geschmack von Dreck, Rauch und Alkohol im Mund.
    »Geht’s dir gut?«, fragte eine junge Frau, die mit zwei prall gefüllten großen Plastiktüten dort saß, wo er eben noch das Mädchen gesehen hatte. Es war verschwunden und mit ihm das Blut auf dem Boden.
    Ein Geschäftsmann im Anzug, den Hörer eines weißem iPod im Ohr, stand an der Waggontür und klammerte sich an seine Aktentasche. Er blickte durch Philip hindurch. Eine türkische Mutter hielt ihre Tochter im Arm; beide hatten ihr Haar unter einem Kopftuch verborgen. Ein Penner mit zottigem Bart hatte sich schnarchend auf dem Zugboden niedergelassen. Dass der Matsch seinen Hose völlig durchnässte, ließ ihn in seinem Rausch kalt.
    Philip wollte der jungen Frau gerade antworten, danke, alles bestens, als er aus dem Augenwinkel bemerkte: Das andere Ende des Waggons war menschenleer. Bis auf das kleine Mädchen, dieselbe Haltung, die gleiche Verzweiflung in ihrem Blick. Sie streckte die Hand nach ihm aus.
    Philip registrierte, dass die junge Frau gemeinsam mit den anderen Fahrgästen wieder verschwunden war, während er durch den Wagen auf das Mädchen zuging. Er beeilte sich, ahnte, dass ihm wiederum nicht viel Zeit bleiben würde. Diesmal wollte er rechtzeitig bei ihr sein.
    Sie regte sich nicht, sah nur zu ihm hoch. Endlich bist du still. Er roch das Blut auf dem Boden. Es ist doch gar nicht so schlimm. Er spürte, wie sich sein Magen Zusammenkrampfte. Dennoch ging er einen Schritt weiter, noch einen, dann noch einen, und dann glitt sein Fuß auf etwas Feuchtem aus.
    »Lisa?«, flüsterte er, und seine Stimme erstarb. Nur der Fahrtwind im U-Bahn-Tunnel und das Rattern der Räder auf den Gleisen war zu hören.
    Noch immer war sie nackt. Die fauligen Ödeme auf der Haut platzten auf, die Flüssigkeit sickerte den kleinen Körper hinab. Das war kein Blut, das war der Tod, der aus ihr floss.
    »Wie kann ich dir helfen?«, flüsterte er. »Sag mir, wie!«, drängte er.
    Die Bremsen kreischten und der Wagen ruckelte, als der Zug in den Bahnhof einfuhr. Kunstlicht flutete den Waggon. Die Kälte wich mit einem Schlag. Philip keuchte. Der Fäulnisgeruch hing noch in der Luft, so wie die Tränen an seinen Wangen hafteten. Aber die kleine Lisa war fort.
    Sein Schädel dröhnte. Er wurde das Gefühl nicht los, dass ihm die Zeit

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