Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
das letzte Level erreicht ist! Der Status quo wird schließlich zu Recht auch immer als der Schlimmste empfunden. Ich weiß nicht, ob das gemeint ist, wenn Außenstehende sagen: «Intensivstation? Das könnte ich nicht!» Nein. So dezidiert kann sich das sicher niemand vorstellen, so nicht.
Der Giftzwerg und ich hatten damals gemeinsam Nachtdienst, und mitten in der Nacht, gegen drei Uhr, wurde uns ein Mann mit Infarkt und Reanimation angekündigt.
Der Giftzwerg, die noch einen freien Beatmungsplatz frei hat, soll ihn übernehmen. Um drei Uhr ist man entweder richtig müde oder gerade wieder durch mit dem «toten Punkt», auf jeden Fall nicht mehr wirklich taufrisch. Die Konzentration auf das, was man da tut, wird von Stunde zu Stunde schwieriger. Man muss ein Bett organisieren und mit dem sperrigen Ding um die Kurven in den Fluren herumkommen, was gerade im Alleingang schwierig ist – es ist wie mit Einkaufswagen, bei denen ein Rädchen unrund läuft, sodass man unversehens mitten im nächsten Regal landet und ein paar Packungen Knäckebrot zermalmt. Deshalb müsste man die Flure eigentlich auch alle halbe Jahre streichen.
Wir prüfen, ob die Absaugung funktioniert, holen Probenröhrchen für die Blutentnahmen, Kurvenblätter, Infusionslösungen. Alles muss fertig sein, wenn der Patient kommt. Wenn man nicht gut vorbereitet ist, geht später, wenn es brenzlig wird, die Rennerei wegen Kleinigkeiten los, und spätestens dann ist das Chaos perfekt.
Der Patient ist riesig, mindestens einen Meter 90 groß und breit, nicht unbedingt dick, sondern eher die Sorte, die problemlos das Telefonbuch von Rom durchreißen könnte und das Postleitzahlenbuch gleich dazu, falls sie in Rom so etwas haben. Der Mann war von höllischen Schmerzen im Brustkorb wach geworden, hatte den Notarzt noch selber alarmiert und sich dann zur Haustür geschleppt. Der Vollbart, der in dieser Nacht Notarztdienst hat, konnte noch etwa eine Minute mit ihm sprechen, dann verdrehte der Mann die Augen und musste auch schon reanimiert werden.
Nun kommt er direkt aus dem Herzkatheterlabor, in dem man diverse verstopfte Kranzgefäße entdeckt hat und glücklicherweise wieder öffnen konnte. Der Giftzwerg und ich arbeiten schnell und routiniert, wir verbinden Schläuche und Messsysteme und rufen die gewünschten Werte auf dem Monitorbildschirm auf, schließen den Mann an das Beatmungsgerät an und drehen ihn zu guter Letzt auf die Seite, um zu gucken, ob er nicht irgendwelche Druckstellen am Rücken und Gesäß hat, und um haufenweise zerfledderte Papierunterlagen aus dem Katheterlabor zu entfernen. Das ist anstrengend, denn der Riese ist nicht nur groß, sondern auch wahnsinnig schwer, und der kleine Giftzwerg ist froh, als wir endlich fertig sind. So weit scheint erst mal alles in Ordnung zu sein; aus den Spritzenpumpen bekommt der Patient Narkosemedikamente und ein Präparat zur Kreislaufstabilisierung. Als wir auf die Uhr gucken, ist es kurz nach halb fünf, und in eineinhalb Stunden ist Feierabend. Um diese Uhrzeit verrichten wir normalerweise Routinearbeiten wie Blutabnahmen, Patienten lagern, Klarschiff machen und die Übergabe an die nachfolgenden Kollegen vorbereiten. So ist die Planung.
Aber dann steht plötzlich der Giftzwerg neben mir. «Komm mal mit, ich krieg die Krise!», jammert sie und zieht mich hinter sich her zu dem Riesen.
«Da!», flüstert sie und zeigt auf das Fußende des Bettes. Zwischen dem Rahmen und dem Fußende ist ein kleiner Zwischenraum, und aus dem tropft der schiere Dünnpfiff! In meinem Kopf höre ich die Filmmusik von «Der weiße Hai», und dann sagt der Giftzwerg: «Guck mal, Leinsamen und Haferflocken, ich schätze, das gab Müsli gestern Morgen!»
Nun ja, was soll man da tun? Saubermachen.
Die Herausforderung liegt zum einen in der Menge und zum anderen an den Maßen des Riesen. Man muss ihn auf die Seite drehen, um alles reinigen zu können, und besonders viel Platz ist da nicht im Bett. Und es ist fast Feierabend, da ist man im Geiste eigentlich schon beim Bäcker um die Ecke! Der Giftzwerg macht sich auf den Weg und holt alles, was wir brauchen: eine Waschschüssel, frisches Bettzeug, einen Haufen Waschlappen und stapelweise Papiertücher. Ich fange derweil an, alles vorzubereiten. Ich hole den Wäschesack, der an einem Gestell auf Rädern hängt, binde mir eine Plastikschürze um, ziehe ein Paar Gummihandschuhe an und entferne die Bettdecke – und es schlägt mir eine Wand aus Gestank entgegen. Es
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