Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
Tische dicht beieinanderstehen. Und so fühlen wir uns wie wahre Outlaws inmitten der ganzen Büromenschen und gestressten Studenten und teilen lachend unsere dunklen Geheimnisse.
[zur Inhaltsübersicht]
Baulärm
Viele Menschen denken, dass es auf einer Intensivstation sehr ruhig zugeht. Sie stellen sich lange und ruhige Flurfluchten vor, durch die das Pflegepersonal und die Ärzte auf leisen Gummisohlen umherhuschen und wo lediglich das rhythmische Zischen der Beatmungsgeräte für eine Art pulsierende Sound-Ordnung sorgen. Wahrscheinlich wird diese Vorstellung durch die Darstellungen in Film und Fernsehen genährt, wo Intensivstationen ruhig sein müssen, damit die Dialoge der Protagonisten nicht im Getöse untergehen. Für die Realität gilt jedoch das absolute Gegenteil: Intensivstationen sind in der Regel laut. Sehr laut. Telefone klingeln, Stimmengewirr liegt wie ein Klangteppich auf der ganzen Station, diverse Alarme ertönen, es piept, dudelt und pfeift und Beatmungsgeräte zischen. Die Klingel steht in der Besuchszeit so gut wie nie still. Spritzenpumpen piepen und weisen darauf hin, dass die Spritze bald leer ist.
Für uns sind diese Geräusche Handlungsaufforderungen; sie signalisieren uns, dass wir loslaufen und Nachschub aufziehen müssen. Zeitgleich schrillen Monitoralarme und zeigen an, dass eingestellte Grenzwerte über- oder unterschritten worden sind.
Kollegen fragen, Kollegen antworten, Patienten fragen, Patienten schreien, das Labor ruft an, Kollegen brüllen über den Flur, die Anästhesistin muss zu einer Reanimation fünf Betten weiter, Panik liegt in der Luft. Das macht zwar kein Geräusch, löst aber den berühmten «Tunnelblick» aus, und der hat einen entscheidenden Vorteil: Das, was gemacht werden muss, steht im Fokus, der Lärm wird vorerst nicht mehr wahrgenommen. Und so geht das die gesamte Schicht. All das Gebimmel, Gedudel und Gepfeife muss also nicht nur zur Kenntnis genommen werden, nein, man muss auch adäquat darauf reagieren wie auf verschiedene Kommandos: jetzt hierhin, jetzt da – ach nein, da ist es jetzt wichtiger, also umdrehen, Scheiße, Fehlalarm, also doch nicht. Manchmal weiß man gar nicht, was man zuerst ignorieren soll.
All dieses führt nach Dienstschluss zu einer gewissen Geräuschüberempfindlichkeit. Mein Bedürfnis nach Ruhe – wenn nicht sogar Stille – ist groß, und obwohl ich nach der Arbeit manchmal gerne noch ein Bier mit Freunden oder Kollegen trinken würde, verzichte ich öfter darauf, weil ich das Stimmengewirr in der Kneipe, das Geplapper am Nachbartisch und die Musik nicht ertragen kann. Mein Kopf ist derart mit Geräuschen vollgestopft, dass kein Platz mehr für Zugaben vorhanden ist.
Umso schlimmer ist es dann, wenn die benötigte Ruhe nicht gewährleistet ist. Und am allerschlimmsten ist es, wenn ich am Schlafen gehindert werde – besonders nach dem Nachtdienst. Mein größter Feind ist der Baulärm. Gerade nach den langen und dunklen Wintermonaten ist die Gefahr, durch stetes Bohren und Hämmern wach gehalten zu werden, am größten.
Die Menschen bestellen sich eine Armada von Handwerkern in die Behausung, die sofort schweres Gerät auspackt und mit angestrengter Miene Wände und halbe Häuser einreißt, Keller entkernt und Balkone abschlägt. Das ist sozusagen Nestbau «in groß» und dem Frühling insofern angemessen, als die Nachbarschaft eine ähnliche Grußbotschaft versendet wie die Knospen an den Bäumen, die Blumen, die ihre Köpfe zaghaft aus den Beeten stecken, und die umtriebigen Vögel: «Ich bin wieder da, der Winter ist zu Ende.»
Die Nachbarschaft aber ist um Längen lauter.
Ich habe zehn Stunden Nachtdienst hinter mir. Anstrengend war es, wie so üblich wurde kurz vor Feierabend noch ein Notfallpatient eingeliefert, und der einzige Vorteil, mit dem diese Situation aufwartet, ist, dass die Zeit im Nu vorübergeht und ich nach Hause fahren kann. Es ist fast zu hell, die Sonne scheint, die Straßen sind mit Autos und Fahrradfahrern vollgestopft, die alle zur Arbeit müssen. Alle wollen vorher noch zum Bäcker, alle wollen die Ersten sein, «Coffee-to-go»-Trinkern schwappt im Gehen die heiße Brühe auf die Jacke, und ich freue mich auf mein Bett. An jeder Ampel drohe ich einzunicken und vom Sattel zu kippen. Manchmal kann ich mich nicht an Einzelheiten der befahrenen Strecke erinnern, und nicht selten würde ich mich am liebsten unter die nächste Brücke legen, wenn die Wiese nur nicht so feucht wäre oder mich
Weitere Kostenlose Bücher