Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
Petersen wirkt zwar erleichtert, aber das «vorerst» hat auch er vernommen. Ich werde von der Ärztin gebeten, Bescheid zu sagen, wenn das nochmal passieren sollte, dann verlässt sie das Zimmer mit einem dezent grünen Stich um die Nase.
Ich gehe in den Flur und trinke Wasser. Ich bin erledigt. Zu gerne würde ich duschen, von diesem ganzen Stress-und-Ekel-Schweiß fühle ich mich entsetzlich klebrig. Der Giftzwerg kommt vorbei und hat gar nicht mitgekriegt, was in meiner Gruselbude los war, weil Herr Recker dringend auf den fahrbaren Toilettenstuhl musste. Der Transfer vom Sessel zum Stuhl gestaltete sich erneut kompliziert, und er hat leider ein bisschen auf den Fußboden gemacht, sodass der Giftzwerg auch wischen musste. Aber es war nicht so eklig wie bei mir. Als ich es ihr erzähle, klappt ihr die Kinnlade herunter. Wir melden uns kurz bei den anderen Kollegen ab und gehen an die frische Luft. Mir ist noch nicht mal nach Rauchen, weil ich immer noch diesen merkwürdigen Geruch in der Nase habe, der sich gerade gemütlich auf den Geschmacksknospen meiner Zunge niederlässt. Ich fummle einen Pfefferminzdrops aus meiner Kitteltasche und erzähle dem Giftzwerg die Details. Gemeinsam ekeln wir uns noch mehr und fangen an, hysterisch zu lachen. Doch als wir zurückkommen und den Flur entlanggehen, habe ich wieder das Bild vor mir, wie sich der Mann aufsetzt, und ich freue mich schlagartig mehr als sonst auf den Feierabend und ein kühles Bier. Noch verbleiben vier Stunden, in denen der nächste Vulkan ausbrechen kann.
Sie gehen ohne weitere Blutfontänen über die Bühne. Der ganze Dienst bleibt mit Ausnahme dieses einen Vorfalls ruhig, wobei ich Herrn Petersen mit Argusaugen beobachte, weil ich furchtbar Schiss davor habe, dass ich nochmal mit so einer extrem unangenehmen Putzerei konfrontiert werden könnte.
Die Eule ordnet bei meinem Patienten zwei Blutkonserven an, die nun nach und nach in ihn hineintropfen; sie ist beunruhigt und glaubt nicht, dass Herr Petersen wirklich um die gefürchtete OP herumkommt. Das behält sie aber vorerst für sich, damit Herr Petersen nicht noch panischer wird, als er es ohnehin schon ist. Im Moment schläft er.
Ich kümmere mich in aller Ruhe um Frau Hahn, wasche ihr Gesicht und säubere ihre Mundhöhle, aus der der Beatmungstubus herausragt. Danach lagere ich sie mit Hilfe des Giftzwergs, damit sie kein Druckgeschwür bekommt. Ich kann überhaupt alles in Ruhe machen, was eigentlich ungünstig ist, da so genügend Zeit bleibt, dass sich der ganze Ekel langsam und genüsslich in mir festsetzen kann. Es fühlt sich an, als würde sich ein neues Venengeflecht bilden, in dem nur Abscheu fließt, direkt vom Herzen ins Hirn. Mit ein bisschen mehr Stress würde ich es nicht so merken, bilde ich mir ein.
Später, nachdem mir der Giftzwerg den «Ekel-Orden» versprochen und mich die Bohnenstange, die zur Nachtschicht gekommen ist, anständig bemitleidet hat, steige ich auf mein Fahrrad und rase wie eine Wahnsinnige zu der Kneipe, in der ich verabredet bin. Ich werde schon vor der Tür erwartet. «Na, wie war’s?», werde ich von meinem Freund gefragt, aber ich deute nur Richtung Kneipe, gehe schnurstracks zur Theke und frage die freundliche Bedienung, was sie denn so an Schnäpsen vorrätig hat.
«Also, Jägermeister, Grappa, Wodka, Ouzo …»
«Einen Wodka bitte!», unterbreche ich ihre Aufzählung. Sie nickt, nimmt ein Glas und schenkt ein. Und zwar reell. Sie scheint zu merken, dass das hier Medizin ist und kein Intro für eine Druckbetankung. Neben mir höre ich den Freund sagen: «Oh, oh, das sieht nach Notfall aus!» Ich nicke beiden zu, und während ich den Wodka auf ex hinunterkippe, wird mir klar: Heute habe ich ein neues Ekel-Level erreicht. Ohne Vorwarnung, wie es sich gehört. Immer, wenn man sich allzu sicher ist, es könne einen nicht mehr viel schocken, kommt von hinten durch die kalte Küche die Bestätigung: Du hast dich getäuscht. Es kommt noch dicker.
Für Herrn Petersen kam es in der Nacht dann leider auch dicke, denn nachdem er bei der Bohnenstange frisches Blut erbrochen hatte, musste er sich leider der gefürchteten Operation unterziehen. Er hat den Eingriff jedoch gut überstanden, wie mir später berichtet wurde.
Das letzte Mal, als es mich so überraschend anfiel, liegt circa vier Jahre zurück. So tückisch kann das Ganze sein: Man hat ein paar Jahre Ruhe, und auf einmal kommt aus heiterem Himmel die nächste Stufe. Und nie weiß man, wann
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