Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
Ausreißversuchen abhalten. Meistens sind sie eine großartige Sortierhilfe für verwirrte Patienten, die sich von der fremden Umgebung und den fremden Menschen bedroht fühlen. Das ändert sich oftmals, wenn die Familie da ist. Und uns fehlt einfach die Zeit, nonstop daneben zu stehen, selbst wenn wir wollten.
Der Giftzwerg hat am Hauptarbeitsplatz noch eine Zeitung gefunden, die ein Kollege liegen gelassen hat, und reicht sie Herrn Recker. Damit ist er fürs Erste beschäftigt, und nachdem der Giftzwerg ihm seine Brille gereicht hat, hält er das Druckerzeugnis auch richtig herum. Das macht erst einmal einen soliden Eindruck.
In den anderen Zimmern ist es genauso ruhig. Entweder liegen dort Patienten, die ein Mittagsschläfchen halten oder lesen – oder sie sind beatmet und lesen nicht. Alle Kollegen wursteln friedlich vor sich hin, niemand braucht Hilfe. Ich beiße in meinen Apfel und bediene die Klingel, die gerade losdudelt – alle Besucher müssen zunächst klingeln. Dann nimmt man Kontakt über die Gegensprechanlage auf und fragt, zu wem sie möchten. Es kann schon mal sein, dass die Angehörigen warten müssen, zum Beispiel, wenn im Zimmer reanimiert, steril gearbeitet oder der Patient gewaschen und gebettet wird. Damit sie nicht ungewollt in brenzlige Situationen hineinplatzen, wird vorher mit dem betreuenden Kollegen geklärt, ob der Besuch hinein darf. Dieses Verfahren ist draußen neben der Klingel extra deutlich vermerkt, und trotzdem kommen manche einfach herein, ohne zu klingeln – «Die Tür war ja offen.» Dann stehen sie im Flur, gucken irritiert und verlaufen sich. Oder sie rennen einfach in eines der Zimmer, in dem sie ihren Angehörigen vermuten, und beklagen sich dort, dass das aber gar nicht ihr Mann sei …
Wie gerufen melden sich die Angehörigen von Herrn Recker. Ich lasse sie herein und höre wenige Minuten später ein erfreutes «Mensch, Vaddi, du sitzt ja im Sessel, super!».
Die Eule kommt über den Flur geschlendert. Sie ist heute Stationsärztin, und das finde ich super, denn die Eule ist eine ganz aufgeräumte und sorgfältige Ärztin, mit der gut Kirschen essen ist. Richtig Lust hat die Eule heute jedoch nicht; auch sie würde lieber im Garten sitzen und lesen, aber wir sind hier nicht bei
Wünsch dir was
und müssen somit an einem Strang ziehen. Die sonntägliche Ruhe lässt die Visiten-Karawane gemütlich loszockeln. Die Eule kennt die Hälfte der Patienten bereits aus ihren letzten Schichten, da bedarf es nicht allzu vieler Worte. Bei Herrn Petersen beschließen wir vorerst abzuwarten: Alle, am inständigsten der Patient selber, hoffen natürlich, dass die Bluterei aufgehört hat und er nicht operiert werden muss. Herr Petersen wirkt tatsächlich ein bisschen erleichtert. Ich gehe in die Stationsküche, um mir eine Flasche Wasser zu holen, nehme einen großen Schluck direkt aus der Flasche und gehe durch den Flur, der vom Sonnenlicht Blockstreifen bekommen hat. Durch die Fenster strahlt es hell hinein, man sieht den Staub im Licht tanzen. Ich gehe auf das Zimmer mit Herrn Petersen zu, sehe durch den Türspalt, wie er da liegt – und wie er sich auf einmal hastig aufrichtet, laut rülpsen muss und dann in einem armdicken Strahl Unmengen von angedautem Blut im hohen Bogen quer durch das Zimmer spuckt. Es klatscht und pladdert auf den Fußboden, auf den Sichtschutz zwischen seinem Bett und Frau Hahn, es tropft vom Bettgitter, und das Erste, was ich denke, ist: «Oh Gott, das muss ich jetzt aufwischen!» Ein klassischer Fall von pragmatischem Selbstschutz; ich tue mir plötzlich schrecklich leid, ekle mich und bin für einen kurzen Moment komplett ratlos. Jetzt bloß nicht innehalten, sonst wird es noch schlimmer, rufe ich mich zur Ordnung. Die Szene wirkt wie aus einem Film. Wie ferngesteuert rufe ich die Eule, laufe wie in Trance zum Wäscheschrank und hole Waschlappen, frische Bettwäsche und ein Hemd. Dann gehe ich zu dem wachsbleichen Mann, der wimmernd daliegt und immer wieder sagt «Das tut mir so leid, das tut mir so leid!», und die Marionette, die mir zum Verwechseln ähnlich sieht, muss alles auf einmal machen: den Mann trösten, den Waschlappen nass machen und ihm das Gesicht säubern und gleichzeitig höllisch darauf achten, nicht in diesen riesigen See aus ausgekotztem Blut zu treten, der sich da bräunlich-schwarz im Zimmer verteilt. Ein See, in dem schwarze geronnene Blutklumpen in der Größe von Kinderschuhen liegen – und ich muss aufpassen, dass
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