Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
in die Gitarre, die zu vorgerückter Stunde irgendein dufter Typ zur Hand nehmen wird, um dieses verdammte «House of the rising sun» zu klimpern und den Text immer einen Halbton zu tief dazu zu knödeln. Bis heute haben wir uns das aber nicht getraut: Spätestens, wenn man die Klampfe erledigt hat, ist der Schwung raus, und auf dem Rasen kann man schlecht richtig schnell durchstarten. Wir müssten also zusehen, wie wir aus der Schneise der Verwüstung, die wir da aus billigem Neid verursacht haben, schleunigst wieder herauskommen, den empörten Mob im Nacken. Also radeln wir böse an den Ahnungslosen auf der Wiese vorbei und verabreden uns nach den Diensten zu einem gepflegten Gelage.
So spaßig diese Rachephantasien auch sind – über kurz oder lang muss natürlich ein gangbarer Weg gefunden werden, der es ermöglicht, nach den Diensten zur Ruhe zu kommen und diese zu genießen, denn wenn man nicht aufpasst, wird man zum Misanthropen. Ich merke es manchmal beim Einkaufen, wenn in der Schlange hinter mir nonstop ins Handy gequatscht wird. Die Leute stehen mitten im Supermarkt im Weg, sie drängeln sich wortlos an einem vorbei und brackern einem mit dem Einkaufswagen in die Achillessehne. Das finden andere Menschen wahrscheinlich auch abscheulich, aber ich habe mit dem gigantischen Schlafdefizit nach Nachtschichten wirklich manchmal die Befürchtung, gleich auszurasten, denn der eingebaute Spam-Filter im Gehirn macht nach so viel Durcheinander im Tag- und Nachtrhythmus einfach irgendwann schlapp.
Einer der großen Vorteile im Schichtdienst besteht allerdings darin, ab und zu mitten in der Woche frei zu haben. Es ist mir ein besonderes Vergnügen, mittags ins Fitnessstudio zu radeln und meine mittlerweile notwendig gewordenen Rückenübungen ungestört in einem manchmal völlig menschenleeren Geräteraum zu absolvieren. Hätte ich einen ganz normalen Nine-to-five-Job, so würde ich ab etwa siebzehn Uhr mitten im Feierabendbetrieb um den Platz an einem der Geräte kämpfen müssen, und ich bin froh, dass mir das erspart bleibt.
Morgens in aller Ruhe mit der Kaffeetasse in der Hand aus dem Fenster auf den sich stauenden Berufsverkehr zu gucken ist eine wunderbare Meditation – zu sehen, wie die Menschen genervt mit den Fingern auf dem Lenkrad herumtrommeln oder in der Nase bohren, all das entschädigt mich für all das hektische Herumgerenne der Vortage.
Einen ganz normalen Wochentag einfach in der Wohnung zu verdaddeln und mich dem Sog eines plötzlich auftauchenden Putzflashs zu ergeben und, mit nicht eben leiser Musik, die Fenster zu polieren. Bisher hat sich auch noch niemand beschwert; ich nehme an, dass das an meinem exquisiten Musikgeschmack liegt. Und später, nach einem entspannenden Wannenbad, mit Freunden noch etwas essen zu gehen, macht einen normalen Mittwoch fast zum Urlaubstag – mit der Ausnahme, dass ich im Urlaub auf gar keinen Fall Fenster putze!
Und es ist immerhin ein Trost, dass ich mit dem Lärmproblem nicht allein auf dieser Welt bin: Heute zum Beispiel werde ich noch das Gästebett für den Star beziehen, die morgen früh nach dem Nachtdienst Asyl bei mir findet. Die Klempner nehmen lautstark das Badezimmer in ihrer Nachbarwohnung auseinander.
Ich hoffe, sie vergisst die Brötchen nicht!
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Ein Kongress bewegt die ganze Stadt.
Es herrscht Getümmel am Bahnhof, Gewusel auf dem Parkplatz und selbst die öffentlichen Verkehrsmittel werden endlich genutzt. In der S-Bahn, in der U-Bahn, im Bus und auf dem Kongressgelände wimmelt es von Menschen, die mit ihrem Gepäck Richtung Eingang rumpeln, weil sie es nicht mehr rechtzeitig zum Hotel geschafft haben. Aufgeregte Jungärzte legen besitzergreifend die Arme um die Hüften aufgeregter Jungärztinnen. Man kennt sich aus einem Auslandssemester im europäischen Ausland oder gar Amerika; jetzt hat der Ernst des Stationsalltags von ihnen Besitz ergriffen, und der gemeinsame Kongressbesuch hat für sie in etwa den Charakter einer Klassenfahrt.
Man erkennt die Teilnehmer sofort an ihren Koffertrolleys und den «Kongresstaschen», die bei der Anmeldung und der Entgegennahme der Kongressunterlagen ausgehändigt werden. Am wichtigsten ist die durchsichtige Plastikhülle, in der ein Kärtchen steckt, auf dem der Name und die Stadt stehen, aus der man kommt. Man hängt es sich an einem Bändchen um den Hals und sieht wichtig aus. Verbummelt man dieses Kärtchen, dann darf man nicht mehr hinein. Ferner
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