Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
und stehe schließlich im ersten oder zweiten Stock. Ich reagiere hilflos, werde mit Ziffern konfrontiert, und eine numerische Reihenfolge bei den Veranstaltungsräumlichkeiten kann ich nicht erkennen. Auf dem Plan sah es wesentlich übersichtlicher aus, wo muss ich denn hin? Wie aus dem Erdboden taucht Rettung in Gestalt von Frau Anzug in der geschmacklosen Teppichlandschaft auf, schick hat sie sich gemacht, wesentlich schicker als ich mit meinem Kapuzenpullover und den Turnschuhen. Frau Anzug sagt, dass sie mal wieder Lust gehabt hätte, sich aufzubrezeln, und wirft kokett ihre langen Haare nach hinten. Wenn man sich umguckt, könnte man ohnehin glauben, man sei zu einer Hochzeit des Hochadels eingeladen. Es fehlen eigentlich nur noch lange Abendkleider.
Frau Anzug ist bestens im Bilde und geleitet mich zu einem Saal, in dem ein Teppich aus den späten Siebzigern liegt. Das ist ja wieder sehr modern, man darf nur nicht zu lange auf das Muster gucken, sonst wird einem schwindelig. Praktische Kongresszentrumsstühle reihen sich aneinander und sind an den Rahmen ineinander gehakt. Diese Erziehungsmethode ist qua Produktdesign unauffällig und simpel gelöst, denn man kann durch die Aneinanderkettung nicht damit kippeln.
Frau Anzug und ich haben uns eine Fallstudie zu einem komplizierten Verlauf einer Bauch- OP ausgesucht: OP , Wundheilungsstörungen, Sepsis, Multiorganversagen, alles dabei und hübsch zusammengefasst. Vorne steht ein Pult, auf dem ein Laptop steht, daneben ein Glas Wasser. Auf der Leinwand sieht man das Logo des Kongresses, wirklich sehr weltläufig das Ganze, richtig mit Corporate Identity.
Ein Mann Mitte dreißig geht zügigen Schrittes auf das Pult zu. Nervös nestelt er an seinem Schlips herum, sein Anzug sieht teuer aus, der Stoff changiert zwischen hell- und dunkelgrau. Für sein geschätztes Alter sind die Haare bereits deutlich gelichtet, er trägt eine randlose Brille und Schweißperlen auf dem Kopf. Nachdem er nervös seinen Krawattenknoten gelockert hat, fängt er sofort an, die ersten Folien seiner PowerPoint-Präsentation poppen auf, und er rattert den Text in einer enormen Geschwindigkeit hinunter. Den Blickkontakt zum Auditorium wird er über die gesamte Vortragslänge nicht wieder herstellen. Wir erfahren von einem dramatischen Operationsverlauf, sehen alsdann das appetitliche Foto einer bereits geöffneten Bauchhöhle, in der Operationsinstrumente stecken, flipp! nächste Folie. Wir hören Begriffe wie «Eiter» und erkennen den Eiter auf der dazu passenden Folie. Man kann nicht meckern, die «keywords» hat er gut positioniert, meistens am Satzende, wo die Stimme hinuntergeht, da kriegt man es gerade noch mit, bevor der nächste Schwall kommt. Die Folien wechseln im geschätzten Fünfzehn-Sekunden-Takt, und in diesem Mordstempo spuckt der gestresste Referent Daten, Zahlen und Fakten wie eine Art sprechender Kassenbon aus. Er schwitzt, als säße er an der Copacabana in der prallen Sonne.
«Der legt sich ja ganz schön ins Zeug», feixt Frau Anzug flüsternd, «ich schätze, in zehn Minuten ist der durch damit!» Auch die nächste Folie, zack!, vom oberen bis zum unteren Rand voll mit Text, stellt kein Problem dar, innerhalb von zehn Sekunden hat der junge Mann sich durch jede einzelne Zeile gekämpft. Frau Anzug nimmt ihre Brille ab, und das ist ein deutliches Zeichen. Ich glaube, sie hat keinen Bock mehr auf diese Frontalbeballerung und würde am liebsten verschwinden. Doch das wäre wie im Kino, «Darf ich mal …, entschuldigung …, danke!», Popcorn fiele hinunter, und das nervt erst recht. Wenn Frau Anzug recht hat, sind es ja auch nur noch fünf Minuten.
Dem Vortragskünstler muss der Schweiß jetzt zentimeterhoch im Schuhwerk stehen. Just in diesem Augenblick ist er auch schon fertig mit allem und bedankt sich herzlich, «auchmeinemcheffürdieunterstützungundohnedendervortragniemalsrealisierbargewesenwäre!» Das sich daraus ergebende Abhängigkeitsverhältnis wäre sicher auch ein interessantes Thema gewesen. Frau Anzugs Einschätzung mit den zehn Minuten war sehr präzise, und wir haben einen Zeitgewinn von etwa dreißig Minuten bis zum nächsten Vortrag. An der anschließenden Diskussion beteiligen wir uns nicht, denn der Mann beantwortet die Fragen genauso atemlos wie beim Vortrag, und die Befürchtung, er könne kollabieren oder schlichtweg verrückt werden, ist nicht ganz unberechtigt. Das wollen wir uns ersparen, es soll schließlich ein fröhlicher Tag
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