Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
werden.
Wir verlassen den Vortragssaal, durchkreuzen Gänge, nehmen die erstbeste der unzähligen Rolltreppen dieses gigantischen Zentrums, fahren in die Eingangshalle, die mittlerweile einem wuselnden Ameisenhaufen gleicht, und finden uns vor dem Haupteingang bei den Outdoor-Aschenbechern ein. Es hat angefangen zu schneien; ein eiskalter Wind heult um die Ecke und es ist ungemütlich. Frau Anzug bemerkt eine Handvoll Tabakkrümel in der Tasche ihres Jacketts. «Halt mal.» Sie drückt mir einen Tabakbeutel in die Hand, zieht ihr Jackett aus und schüttelt die Krümel aus, die mit den Schneeflocken verwirbeln und um die Ecke wehen. «Scheiße, ist das kalt», konterkariert sie ihren eleganten Auftritt, zieht das Jackett wieder über und dreht sich frierend eine Zigarette. Es ist eng hier draußen, denn man kann nur unter dem Vordach stehen, sonst wird man umgepustet. Wie Pinguine stehen wir dicht an dicht; eigentlich ist es ganz gemütlich, aber immer zieht wieder irgendjemand sein Handy aus der Tasche, und sofort pfeift der Eissturm in den entstandenen Zwischenraum. Schlotternd gehen wir wieder hinein und hinterlassen eine frostige Lücke. Die Gruppe draußen rückt zusammen.
Unser Interesse gilt nun dem Stand einer Pharmafirma, an dem es immer sehr leckeren Espresso gibt, und der befindet sich inmitten der Industrieausstellung. Das bietet uns eine gemütliche Rückzugsmöglichkeit, in der man trotzdem alles Wichtige mitbekommt.
Der potentielle Kunde wird umgarnt, damit er glaubt, dass er genau diese Sachen haben muss. Alle haben sie sich richtig etwas einfallen lassen, ohne Event-Management geht es heutzutage auch gar nicht mehr. Neben der Zurschaustellung wichtiger und weniger wichtiger Produkte gilt es, den Kunden Platz zum Ausspannen zu bieten, inklusive einer reichhaltigen Getränkeauswahl sowie diverser Snacks. Hier ein Ausschank frisch gepresster Säfte, dort eine Auswahl an Vollwertbrötchen mit Käse, auch Äpfel liegen in großer Zahl parat, «an apple a day keeps the doctor away». Frau Anzug und ich nehmen uns gleich mal einen und steuern zielstrebig zum Pharma-Stand. Dort steht wie jedes Jahr Herr Schwarz und freut sich, als wir um die Ecke kommen. «Ach, Sie auch hier», lacht er, «geht’s gut?» Wir schütteln uns die Hände, während wir unser Wohlbefinden bekunden, und dann fragt er freundlich: «Kaffee, die Damen?»
«Ach, Herr Schwarz, wir hatten so gehofft, dass Sie uns das fragen würden», antwortet Frau Anzug augenzwinkernd, und Herr Schwarz werkelt sogleich fachkundig und emsig an einer knallrot glänzenden italienischen Espressomaschine herum, die fauchend das Getränk in zwei kleine Tässchen speit. Er nimmt die Tässchen, legt auf die Untertasse jeweils zwei außerordentlich leckere Kekse und geleitet uns zu einer eleganten kleinen Sitzgruppe, die in diese knappe Quadratmeterzahl des Standes mal gerade so hineinpasst. Das nennt man, glaube ich, «comfort zone», und da sitzen wir nun wie zwei Diven und schlürfen geräuschvoll unseren Espresso. Das muss man so machen, damit sich der Geschmack besser entfalten kann. Frau Anzug hält elegant ein Gebäckstück zwischen zwei Fingern, den kleinen Finger abgespreizt, und blättert mit der anderen Hand im Programm. «Gehen wir zur Herzinsuffizienz?», fragt sie mich. Ein Vortrag über Herzinsuffizienz, wenn die Pumpe nicht mehr so recht will, und die Folgen nebst apparativen Behelfsmöglichkeiten, bei dem wir bestimmt richtig was lernen können, das ist genau das Richtige für uns. Allerdings müssten wir uns dann auch baldmöglichst erheben, denn es geht in zehn Minuten los. Wir bedanken uns bei Herrn Schwarz für die hervorragende Bewirtung und drohen einen erneuten Besuch an, damit er auch die Gelegenheit hat, neues Backwerk zu organisieren. Frau Anzug hat ganz schön zugeschlagen und wischt sich die Krümel vom Dekolleté. Diesmal nehmen wir die normale Treppe; es ist nicht weit, und die Kohlenhydratzufuhr durch die vorzüglichen Kekse muss ja auch verwertet werden.
Der Vortrag findet in einem riesigen Saal statt, an dessen Fenstern dicke Schneeflocken vorbeitreiben. Wir suchen uns ein strategisch günstiges Plätzchen im hinteren Saaldrittel: Zum einen wollen wir natürlich sehen, wer da redet. Und wir wollen sehen, wer aus dem Publikum danach zum Mikrofon geht, um wichtigtuerische Fragen zu stellen oder blöde Bemerkungen zu machen, die dann das ganze Auditorium aufbringen, bevor es ans Eingemachte geht.
Wir stellen unsere Taschen
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