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Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Grunwald
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freigelegter Unterschenkelknochen – was spräche dagegen, ein kleines Sammelalbum anzubieten oder ein Quartett daraus zu machen? Das könnte ich zur Überraschung meiner Kollegen und Freunde in einer ruhigen Minute in der Nachtschicht oder beim Feierabend präsentieren. Ein kompletter Satz Amputationsverletzungen, Schürfwunden oder Schnittverletzungen. Nicht zu vergessen die absonderlichen Sachen, die nirgendwo so richtig hineinpassen, zum Beispiel der weggefräste Oberkiefer, mit dem ein Mann durch die Baumrinde gerattert ist, weil seine Frau die Leiter losgelassen hat. Die Zähne im Laub! Das Design der Borke! Auch eine Sammlung wichtiger Notfallnummern könnte auf die Rückseite des Kärtchens gedruckt sein nebst ein paar freien Zeilen, auf die der Kunde die Nummer des Hausarztes eintragen möchte. Und die Nummer des Giftnotrufes, falls man doch mal aus Versehen einen Stängel Fingerhut weggeknabbert oder nicht weiter darauf reagiert hat, als die Kinder «Toll, Kirschen!» gerufen haben. Wenn es im Garten still wird, dann bekomme ich Angst.
     
    Was an Tagen, an denen ich nach dem Nachtdienst dringend schlafen muss oder sich ein erhöhtes Ruhebedürfnis zeigt, schwer zu ertragen ist, sind Kinder. Das junge Glück über mir hat zwei davon – gut, das eine ist noch winzig, das hört man ab und zu mal krähen. Aber «der Große» kann schon ganz toll mit seinem Plastikauto fahren, immer schön über das Parkett, wie sein Vati, der auch den ganzen Tag mit seinem tollen Auto fährt, unter anderem auch die fünfzig Meter zum Bäcker. Und dann dullert der Zwerg mit irgendwelchen ökologisch korrekten Holzkugeln auf dem Boden herum. Es fühlt sich an, als würde mir jemand permanent auf den Kopf hauen, aber als ledige und kinderlose Frau habe ich selbstverständlich kein Recht, mich über die Brut anderer Menschen zu beklagen. Das erschwert die Lage immens. Spreche ich die junge Mutter darauf an, ob es möglich wäre, das Kind vielleicht mal auf einem Stück Teppich herumfahren zu lassen – «Weil ich sonst hochkomme, die Karre mitnehme und sie bei meinem Vater in den Schredder schmeiße!» zu brüllen kann ich mir gerade noch verkneifen –, kommt das beliebte Totschlagargument: «Aber das sind doch Kinder!»
     
    Tagsüber schlafen zu müssen ist eine echte Herausforderung, was nicht unbedingt damit zusammenhängt, dass ich in der Stadt wohne. Erst kürzlich beschwerte sich ein auf dem Land lebender Kollege, dass er kurz nach zehn am Vormittag geweckt wurde, weil es erbärmlich nach Gülle stank. Fünfzig Meter von seinem Schlafzimmerfenster entfernt tuckerte gemütlich der Bauer auf seinem Trecker vorbei, vor und zurück, mit feinem Sprühnebel die Gülle auf dem Acker verteilend. Ein dichter Nebel aus konzentrierter Schweinescheiße strömte durch jede Fensterritze. Das steckt selbst eine hartgesottene Fachpflegekraft kaum weg, vor allem weil auch die Nase einmal eine Pause braucht.
    Manchmal träume ich von einer Rolle à la «Zorro aller Schichtarbeiter». Man hängt im Nachtdienst schwer in den Seilen und kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, weil den lieben langen Tag gelärmt wurde – und man möchte sich rächen an all diesen Knallchargen, die für einen hässlichen Anbau vier Monate nonstop hämmern. Man möchte gründlich abrechnen mit all den Erbsenzählern, die drei Stunden lang mit ihrem Rasentrimmer stoisch den Garten abschreiten, und den keifenden Muttis, die ihre Kinder und die fünf Schreihälse aus der Nachbarschaft nicht unter Kontrolle bringen und es gerade noch verhindern können, dass der größte Schreihals die Katze in den Gartenteich tunkt. Man möchte es ihnen heimzahlen, wenn sie endlich alle zur Ruhe gekommen sind, wenn sie ihren Freunden eine Baustellenbesichtigung bieten und friedlich grillen, wenn die Kinder schlafen. Wenn endlich Ruhe ist.
     
    Manchmal haben der Star oder der Giftzwerg zusammen Nachtdienst und fahren mit dem Fahrrad in die Klinik, vorbei an all den Leuten, die sich mit ihren Freunden am See treffen. Sie bauen einen Grill auf, sie sitzen auf Wolldecken, trinken Bier, lachen und reden, und wir werden grün vor Neid. Nach wenigen Stunden mehrfach gestörten Schlafs nachts arbeiten zu müssen macht schlechte Laune, und was wir nicht haben dürfen, sollen andere auch nicht haben. Wie oft haben wir uns schon vorgestellt, einfach den Deich hinunterzurasen, quer über die Wolldecken, bumm! hinein in den Grill, Würste fliegen in alle erdenklichen Richtungen, knack!

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