Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
ab, und schon betritt ein großer Mann das Podium. Er trägt einen akkuraten Seitenscheitel und ist sorgfältig rasiert, der maßgeschneiderte Anzug betont unaufdringlich seinen athletischen Körper. Frau Anzug pfeift leise durch die Zähne, und die Frau vor uns dreht sich grinsend um und hält den Daumen nach oben. Ich finde den Typen ein bisschen zu sparkassenmäßig, will den Damen aber auch nicht die Stimmung verderben.
Der Mann hat eine sonore Stimme. Er stellt sich vor, spricht ruhig und fummelt sich nicht ständig am Schlips oder Hosenbein herum. Auch er nutzt PowerPoint-Folien, die ihm aber eher zur Orientierung dienen, sodass uns ein weiteres anstrengendes «Pixel-Karaoke» erspart bleibt. Ab der zweiten Folie packen im Publikum gleich mehrere Personen ihre Digitalkameras aus, dann wird gezoomt, wssss! und eifrig die vorne präsentierte Folie abfotografiert, klack! Die Streber fotografieren alles schön ordentlich ab, um die Folien zu Hause nochmal zu bearbeiten und daraus vielleicht flugs eine schicke kleine Dissertation zusammenzuhäkeln.
Dem Vortrag liegt ein bestechend hohes und umfassendes Fachwissen zugrunde. Frau Anzug und ich beißen zum Zeitvertreib krachend in unsere Äpfel von der Industrieausstellung.
Nach ungefähr einer Dreiviertelstunde ist der Referent fertig mit seinen Ausführungen und fragt, ob es denn noch Fragen gäbe. Es kommt zu zügigen Wortmeldungen, schließlich wurde allerneuestes Hightech zur Verbesserung der kardialen Pumpleistung vorgestellt, da möchte natürlich jeder seinen Senf dazugeben. Frau Anzug und ich arbeiten auch mit all diesem Krempel, aber wir wollen nicht die Rampensau geben – wir bleiben sitzen, um uns über die aufgeblasenen alten Knacker lustig zu machen. Mit leicht nach hinten gestellten Schulterblättern und auf dem Rücken zusammengelegten Händen betritt der erste grau melierte Wortmelder die Showbühne und nuschelt gelangweilt in die Verstärkermembran. Er scheint geradezu darauf vorbereitet gewesen zu sein, dass während des Vortrags Dinge erörtert werden, zu denen er ganz klar die eine oder andere Note beitragen kann. Sozusagen.
Es erfolgen circa zehn Sekunden Einwirkzeit. Dann ertönt erst mals hörbares Erstaunen. Der Lieferant dieser erstaunlichen Tatsachen – und erstaunlich ist hier zunächst alles, was besonders teuer oder besonders billig ist – dreht sich vom Mikrofon weg und schickt sich an, an seinen Platz zurückzukehren. Eine spontan aus dem Publikum gestellte Frage hält den Wortmelder jedoch zurück, allerdings nicht durch abruptes Bremsen mit kombiniert brüskierter Kehre, nein, er bleibt ganz gelassen stehen und brummelt die Antwort auf die Frage aus dem Publikum aus etwa zwei Meter Entfernung immer noch gut verständlich in das Mikrofon, verharrt kurz, und als keine Gegenfrage kommt, begibt er sich in aller Ruhe zurück an seinen Platz. Kein Zweifel, hier ist ein Könner am Werk. Der Referent fragt, ob denn «die Thüringer vielleicht noch etwas Neues hätten». Aha, «die Thüringer», man kennt sich also, und dann erhebt sich auch schon der Ober-Thüringer. Er sächselt entsetzlich; Frau Anzug und ich verstehen kein einziges Wort, und in den hinteren Reihen fangen einige an zu lachen. Die Veranstaltung kippt nun in eine Komödie um. Der Vortrag war schon super, aber der Rest war absolute Spitze. Was für eine Darbietung! Frau Anzug und ich leiden allerdings plötzlich am Phänomen «Fremdschämen». Der sächselnde Mann macht uns wahnsinnig, und so entscheiden wir uns kurzerhand zur Flucht und verlassen mit einigen anderen grinsend den pompösen Saal.
Draußen beim Rauchen überlegen wir, was wir uns nun anhören. Das auf einem Kongress angebotene Programm gleicht einer reichhaltigen Speisekarte. Standards wie Vorträge über Narkoseführung, Beatmung und Notfallmanagement finden sich in großer Anzahl, sie sind sozusagen die «Schnitzel mit Pommes frites» im Programm: Fast jeder kennt sie, fast jeder mag sie, und wenn einem nichts anderes einfällt, dann geht man dort hin.
Wesentlich elegantere Kreationen aus der Sterneküche sind die Spitzfindigkeiten aus der Biochemie, bis ins kleinste Detail auseinandergenommene Blutgasanalysen und ausufernde Vorlesungen über ein einziges Spurenelement, an die sich oftmals erbitterte Debatten schließen.
Hinter «Hands-on»-Veranstaltungen verbergen sich Workshops wie zum Beispiel «Airway-Management – State of the Art» in einer bunten Palette aus der Sprachfamilie des
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