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Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Grunwald
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und ließe es dann bleiben. Gerade die Herren, die – manchmal nicht nur im Zustand geistiger Umnachtung – gerne einmal manuell überprüfen, ob denn ihr Gemächt noch da ist, stören sich sofort an dem Schlauch, der dort aus der Spitze des Penis herauskommt, und ziehen einmal kräftig. Plopp! kommt der Schlauch inklusive Ballon heraus, was bestimmt furchtbar wehtut. Möglicherweise verhindert jedoch der Medikamentencocktail aus Schmerz- und Beruhigungsmitteln die Sensibilität, und die Gegenwehr ist groß, wenn ein neuer Katheter gelegt werden muss, aus dem dann nicht nur Urin, sondern auch Blut fließt.
    Wiederholt schon musste nächtens der Urologe kommen und weiterhelfen, weil die älteren Semester mit einer übergroßen Prostata zu tun haben und selbst erfahrene Krankenpfleger keinen Weg mehr in die Blase fanden. Die Idee, den Katheter wegzulassen, wenn er denn nun so stört, entpuppt sich oft als Schlag ins Wasser – entweder verstehen die Herren die Anwendung der Urinflasche nicht, trinken daraus oder machen ins Bett und liegen im Nassen. Eine Blasenentzündung ist den Patienten in fast allen Fällen sicher.
    Spielt sich der Akt der Selbstzerstörung über mehrere Tage ab, können sämtliche pflegerischen und medizinischen Bemühungen zunichtegemacht werden.
    Entsetzlich erschöpft müssten diese Patienten eigentlich sein, schlafen sie oft in den Nächten gar nicht oder nur mit zahlreichen Unterbrechungen. Und die erstaunlichen Mengen an Medikamenten, die beruhigend, schlaffördernd und schmerzstillend wirken sollen, machen ihren Job ausgerechnet hier äußerst schlampig. Hat man sich bisher bei einem Präparat immer auf seine gesicherte Wirkung verlassen können, wirkt es ausgerechnet in diesen Fällen paradox. Im Klartext heißt das: Was eigentlich beruhigend wirken soll, macht diesen Menschen unruhig, wach und wuselig. Die ganze Nacht. Die ganzen zehn Stunden.
     
    «Können Sie bitte mal liegen bleiben», fleht der Star Frau Siebrecht zwei Tage nach dem Ereignis mit dem Tiger entnervt an – und weiß genau, dass die Patientin nicht liegen bleiben wird. Die ganze Nacht hat sie sich so schon um die Ohren gehauen, und allmählich wird der Star ungehalten. Frau Siebrecht fühlte sich irgendwann hintergangen, weil man den niedlichen und harmlosen Tiger aus ihrem Zimmer entfernt hat, noch immer möchte sie «mal los» und lässt sich davon nicht abbringen. Wohin sie dann gehen will, ist nicht klar. Ihre Arbeit kann es nicht sein, weil die Patientin bereits seit über zehn Jahren Rentnerin ist. Die ganze Aufregung beschert ihr Blutdruckwerte im höchst kritischen Bereich, ihr Herz rast und sie ist völlig außer Puste. Trotzdem setzt sie sich fast jede Viertelstunde taumelnd auf die Bettkante. Der Star gibt sich alle Mühe, dem Fulltime-Job gerecht zu werden: Sie reibt ihr den Rücken ein, sie hilft Frau Siebrecht abends um zehn noch in den Sessel – in der Hoffnung, die Anstrengung würde die Patientin ermüden. Von weiteren Medikamentengaben sieht der Star ab. «Guck doch mal, was die schon alles eingefahren hat, das ist ja unheimlich!»
    Auch die Stationsärztin, Frau Anzug, sieht das Ganze mit wachsender Besorgnis. Etwa kurz vor vier Uhr höre ich den Star aus dem Zimmer rufen: «Kann mal schnell jemand kommen?»
    In ihrer Stimme schwingt Panik mit, und als ich um die Ecke komme, traue ich meinen Augen nicht: Frau Siebrecht hat sich in aller Ruhe sämtliche Kabel abgebastelt, die sie zu fassen bekommen hat, und diese zum Teil ordentlich aufgewickelt auf ihrem Nachttisch abgelegt. Auch den zentralen Venenkatheter hat sie entfernt. Es blutet nicht unerheblich aus der Einstichstelle, der Blasenkatheter liegt auf dem Fußboden, und Frau Siebrecht steht mit hinten offenem Hemd schwankend und blutend vor dem Bett und sagt sehr bestimmt: «So, und jetzt will ich wissen, wie das hier weitergehen soll!»
    Wir wüssten das auch sehr gerne und schlagen der Frau vor, sich erst mal hinzusetzen. Sie will weder sitzen noch gestützt werden, hält sich aber immerhin am Bettgitter fest. Ihr Blick irrlichtert durch den Raum, sie ist nun völlig desorientiert. Ich hole den Stationsarzt. Mit Engelszungen redet Frau Anzug auf die Frau ein, die mit leerem Blick auf der Bettkante sitzt und wiederholt und zunehmend grantig sagt: «Ich will wissen, wie das hier weitergehen soll!»
    Mittlerweile ist es kurz vor halb fünf, eigentlich müssen wir jetzt Blut für die Laboruntersuchungen abnehmen, die anderen Patienten lagern,

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