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Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Grunwald
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daran hat er glücklicherweise noch nicht herumgerissen. Um ihm aber das Medikament spritzen zu können, müsste man ihm allerdings schon recht nahe kommen, und das scheint uns angesichts der Gabel sehr riskant.
    Der Vollbart steht etwa zwei Meter vom Bett des Patienten entfernt. Er wirkt angespannt und etwas genervt, trotzdem bemüht er sich, freundlich zu klingen.
    «Guten Tag, Herr Schroth! Ich bin der Stationsarzt, wie geht es Ihnen?»
    Herr Schroth guckt skeptisch.
    «Sie wollen mich umbringen!», wiederholt er.
    «Wissen Sie denn, wo Sie sind?», fragt der Vollbart und weiß, dass diese Frage eigentlich pure Rhetorik ist. Hinter mir höre ich den Giftzwerg leise sagen: «Ich weiß, wo ich mich befinde, aber mir wird das immer unheimlicher!»
    «Die Truppen kommen!», fantasiert Herr Schroth und hält die Gabel so fest, dass seine Fingerknochen ganz weiß werden.
    «Oh Gott, was denn für Truppen?», flüstert die Eule. Sie zieht ein Medikament auf, das bei halluzinatorischen Psychosen gegeben wird. Der Vollbart bleibt in gebührendem Abstand zu Herrn Schroth stehen und redet weiter auf ihn ein, er erzählt ihm von seiner Operation, die er hinter sich gebracht hat, dass er sich jetzt noch auf der Intensivstation befände. Herr Schroth hört ihm zwar zu, bleibt aber uneinsichtig und behauptet weiterhin felsenfest, dass jetzt «die Truppen» einmarschieren und «Wieso überhaupt Operation?», das sei alles Unfug.
    Die Eule hat die Spritze dem Giftzwerg gegeben, denn die ist klein und kann sich womöglich ungesehen am Bett des Patienten vorbeimogeln, um das Medikament in den Venenkatheter zu spritzen, um Herrn Schroth ruhigzustellen, der weiterhin mit dem Besteck herumfuchtelt. Sind zwei Personen schon «eine Truppe»? Herr Schroth wird immer nervöser, der Vollbart geht einen Schritt auf ihn zu, immer weiterredend.
    «Ihre Frau kommt gleich zu Besuch, die wird sich freuen, wenn sie sieht, dass Sie schon auf der Bettkante sitzen können.»
    Herr Schroth blickt hektisch um sich. Natürlich hat er längst bemerkt, dass der Giftzwerg sich angeschlichen hat, und er weiß nicht, wen er zuerst attackieren soll. Als der Vollbart nach der Gabel greifen will, dreht sich Herr Schroth um, weil er den Giftzwerg bereits hinter sich wähnt, und der Vollbart greift ins Leere. Das Bild entbehrt nicht einer gewissen Komik, und er bricht in Gelächter aus. Im selben Moment hat der Giftzwerg, elegant der Gabel ausweichend, aber schon die Hälfte der Spritze in den Katheter des Mannes gedrückt. Herr Schroth holt tief Luft, um noch einmal um Hilfe zu rufen, dann bekommt er einen glasigen Blick.
    «Hil…», setzt er an und endet mit einem leisen « …fe …». Die Gabel fällt auf den Linoleumboden und der Mann in Zeitlupentempo in sich zusammen.
    Wir legen Herrn Schroth zurück ins Bett und atmen tief durch. Der Giftzwerg steht vor dem Fußende des Bettes und schüttelt ununterbrochen den Kopf. Niemand von uns versteht, was diesen Zustand ausgelöst hat, auch die Tageszeit ist eher untypisch – es ist Mittag, und Wahrnehmungsstörungen treten meistens auf, wenn es draußen dunkel wird. Vielleicht liegt es an dem neuen Zimmer?
     
    Am sogenannten Durchgangssyndrom leiden Menschen nach Reanimationen oder nach Herzoperationen. Die akute Lebensgefahr, die man selber durch den narkosebedingten Filmriss nicht beurteilen und bewerten kann, oder der Einsatz der Herz-Lungen-Maschine können für die Gehirndurchblutung eine Reihe problematischer Folgen parat halten, zu der unter anderem eine derartige Verwirrung zählt, die in eine akute Psychose mit Verfolgungswahn, Vergiftungs- und Mordfantasien kippen kann und während der Menschen Dinge sagen und tun, an die sie sich hinterher nur noch bruchstückhaft oder gar nicht erinnern können – die entsetzten Angehörigen dafür umso besser. Die Patienten geraten in Todesangst bei der Vorstellung, am Herzen operiert zu werden, und wachen zumeist auch mit dieser Panik wieder auf.
     
    Herr Schroth liegt jetzt ruhig auf dem Rücken. Einen Patienten derart zu überlisten ist immer das letzte Mittel; andererseits geht der Selbstschutz vor, und die Gabel wollte auch niemand in die Augen bekommen.
    «Die Frau wird einen Fön kriegen», schnauft der Giftzwerg resigniert, «der war so gut drauf!»
    Die Eule ordnet noch zwei Medikamente an, die Herrn Schroth zum einen beruhigen und zum anderen das Durcheinander im Kopf «sortieren» sollen.
    «Bevor er aus dem Bett steigt und stürzt oder wenn er um

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