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Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Grunwald
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das Waschbecken, das sich zwei Meter von ihrem Bett entfernt befindet.
    «Da! Der niedliche Tiger!»
    Was?! Und dann macht sie wieder dieses schnalzende Lockgeräusch.
    «Komm doch mal her, du Süßer, hm?»
    Ich sehe keinen Tiger, ich sehe nur, dass Frau Siebrecht komplett aus der Stationsrealität heraus- und in einen Tierpark hineingefallen ist.
    «Miezmiezmiez!»
    Gleich kommt die Ablösung. Aber was mache ich mit dem Tiger? Der Star kommt um die Ecke, und ich sage «Psssst!».
    Der Star guckt erstaunt, Frau Siebrecht verlegt sich wieder auf ihre Lockrufe und ringt um das Zutrauen ihres imaginären neuen Freundes.
    «Guck mal», sage ich zum Star, «unter dem Waschbecken, dieser wunderschöne Tiger!»
    Zum zweiten Mal werde ich innerhalb einer Stunde angeguckt, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank.
    «Sehen Sie ihn?», bindet Frau Siebrecht den Star ins Gespräch mit ein. Meine Kollegin schaltet schnell und lobt das Prachtexemplar seiner Spezies.
    «Frau Siebrecht, ich glaube, das ist kein guter Einfall, den Tiger hier im Zimmer zu lassen, der hat ja gar nichts zu trinken hier, was meinst du», wende ich mich ratsuchend dem Star zu, «wollen wir ihn in die Küche mitnehmen?»
    «Ja», sagt sie, «ich glaube, da steht auch noch eine Dose Thunfisch herum.»
    Frau Siebrecht findet es reizend von uns, dass wir uns so rührend um den Tiger kümmern wollen, und so beuge ich mich vor dem Waschbecken hinunter und sage: «So, Dickerchen, du alter Ausreißer, dann komm mal mit in die Küche!»
    «Jja, fein», sagt der Star, und im Flur platze ich fast los vor Lachen. «Na, komm, Tigerchen, gibt Thunfisch!», locken wir die imaginäre Raubkatze aus dem Zimmer von Frau Siebrecht – und werden kritisch vom Vollbart und der Bohnenstange, meiner Ablöse, beäugt.
    «Ich hole nur den Tiger aus dem Zimmer», erkläre ich und versuche möglichst unbeteiligt zu gucken.
     
    Patienten mit Durchgangssyndrom kosten Nerven und Geduld; sie fordern die Kreativität des Pflegepersonals und der Ärzte im höchsten Maße heraus. Oft muss man sich mühsam zusammenreißen, um nicht richtig böse zu werden oder sich schiefzulachen. Und manchmal möchte man direkt nach Dienstbeginn die Station schon wieder verlassen, weil man schon in der Umkleide jemanden laut «Hilfe!» oder «Erna!!» brüllen hört. Es ist leichter, einen Sack Flöhe zu hüten als zwei vollkommen durcheinander geratene Menschen, die, sobald man ihnen den Rücken zudreht, aus dem Bett steigen oder fallen, die sich mit der ganzen Takelage aus EKG -Kabeln und Drainagen verheddern und kräftig daran ziehen, weil sich alles durch das andauernde Genestel in einen gordischen Knoten verwandelt hat. Im Prinzip könnten die EKG -Kabel problemlos wieder angebracht werden, wenn sich der Patient nur nicht so nachdrücklich dagegen wehren würde, indem er versucht, einem in den Arm zu beißen.
    Je länger so ein Durchgangssyndrom andauert, umso größer die Flurschäden: Verletzungen durch das Herausreißen von venösen und arteriellen Zugängen, die zum Teil mittels Naht fixiert sind, oder wenn gar die Spitze unter dem Hautniveau abreißt, stecken bleibt und herausoperiert werden muss, überhaupt Entzündungen, weil überall herumgefummelt, -genestelt und -gezogen wird, mit reiselustigen Fingern, die vorher noch einmal am Dauerkatheter oder im eigenen Stuhlgang vorbeigeschaut haben, sodass sich die gesamte Bandbreite körpereigener Bakterienstämme ungehindert auf eine fröhliche Klassenfahrt in Regionen macht, in denen sie eigentlich nichts zu suchen haben und wie rücksichtslose Touristen die Biosphäre durcheinanderbringen, indem sie ihren Müll dort abladen und sich ungebeten vermehren. So liest man manchen Laborbefund mit einer Mischung aus Grauen und Erstaunen, wenn der Abstrich einer Einstichstelle am Hals plötzlich Bakterien aus der Darmregion enthält.
    Von großem Interesse sind die Dauerkatheter in der Blase. Sie sind störend, unangenehm und sie tun weh, weil sie direkt in der Harnröhre liegen. Ihr Vorteil besteht darin, dass ich sehen kann, was dieser Mensch pro Stunde pinkelt. Wenn jemand plötzlich stundenlang gar nicht pinkelt, muss man sich also Gedanken machen, warum was und wann zu tun ist. An der Spitze des Katheters befindet sich ein Ballon in der Größe einer kleinen Walnuss, wodurch ein Herausrutschen des Schlauches aus der Blase eigentlich verhindert werden soll. Spätestens wenn man daran zieht, müsste man merken, dass da ein Widerstand ist,

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