Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
gelaunt. Das vermittelt mir das Gefühl, dass sie alle völlig verrückt sein müssen.
Wir teilen uns in die verschiedenen Zimmer ein. Entscheidend ist, mit wem ich in einer Ecke arbeite: Habe ich zum Beispiel den Star oder den Giftzwerg als Nachbarinnen auf dem Flur? Gerade an solchen Tagen ist die Gefahr groß, mit lahmarschigen Nervensägen konfrontiert zu werden, die noch nicht einmal ihre eigenen Patienten in Schach halten können und außerstande sind, mir hilfreich unter die Arme zu greifen. Ein solches Los wäre zum Beispiel die Schnecke, die eigentlich ganz nett ist, aber mit zunehmendem Alter und Dienstjahren auf dem Buckel immer langsamer und begriffsstutziger wird und wahrscheinlich ebenfalls einfach nur müde ist. Auch ich fühle mich wie eine lahmarschige Nervensäge und bediene mich zur Rettung meiner selbst der Projektion, damit mir mein Selbstmitleid nicht gänzlich den Vormittag verdirbt und ich noch einigermaßen gut dabei wegkomme. Außerdem hat die Schnecke tatsächlich heute Dienst, und es kann sehr gut sein, dass ich ihre Hilfe brauche. Also: keine Unhöflichkeiten! Außerdem ist der Giftzwerg da; ich verspreche mir von ihrer Anwesenheit Aufmunterung und eine gewisse Grundgeschwindigkeit im Arbeitsablauf.
Ich betreue zwei Patienten: Frau Yildiz hat am Vortag eine Darmoperation gehabt. Als ich das Zimmer betrete, sehe ich eine kleine und rundliche Mittfünfzigerin, die zwar noch ein wenig blass um die Nase ist, ansonsten aber einen recht vitalen Eindruck macht. Ich frage sie, wie es ihr geht, und sie sagt: «Danke, gut, und Ihnen?»
Im ersten Moment bin ich verblüfft, dann antworte ich: «Na ja, es geht so.»
«Ist früh, was?», grinst sie, und ich nicke.
«Macht doch nichts», fügt sie hinzu, und ich finde sofort, dass Frau Yildiz die netteste Frau auf der ganzen Welt ist. Nur sie hat es bisher geschafft, ein Lächeln in mein Gesicht zu zaubern, zu dem ich um diese Uhrzeit kaum imstande bin. Ich bin froh, eine wache und sympathische Patientin zu betreuen, denn mit Sicherheit wirkt sich das begünstigend auf meine Stimmung aus.
Der zweite Patient ist Herr Schubert, der beatmet und reglos im Nachbarzimmer liegt und eigentlich schon viel wacher sein sollte. Seit drei Tagen sind sämtliche Narkosemedikamente abgesetzt und er bekommt lediglich Medikamente gegen die Schmerzen, aber er wird nicht wach. Ich weiß, dass man ihn heute noch in die Computertomografie fahren wird, um sicherzustellen, dass er nicht noch eine Hirnblutung oder einen Schlaganfall gehabt hat. Mir schwant, dass diese Gurkerei in meiner Schicht stattfinden wird, deshalb versuche ich tapfer zu sein und schleunigst mit meiner Arbeit anzufangen.
Durch die freundliche Begrüßung halbwegs motiviert, betrete ich das Zimmer von Frau Yildiz. Meine Aufgabe besteht darin, ihr beim Waschen behilflich zu sein, den Verband zu kontrollieren, Pflaster zu wechseln und ihr zu helfen, sich auf die Bettkante zu setzen, ohne dass sie sich in all dem Kabelsalat verheddert. Das ist ein einfacher Einstieg. Ich warne sie vor, dass ich jetzt das Licht anmache; Frau Yildiz blinzelt und ist froh, dass sie sich endlich ein bisschen frisch machen kann. Während sie ihr Gesicht eincremt, beziehe ich die Decke und das Kissen frisch, und wir unterhalten uns darüber, dass das Älterwerden eine kostspielige Angelegenheit ist, denn nicht zu Unrecht beklagt Frau Yildiz die horrenden Preise für einen Tiegel «Frischhaltecreme», wie sie diese Präparate zu nennen pflegt. Wir kichern beide einträchtig, und meine Müdigkeit ist wie weggeblasen. Frau Yildiz hat sich soeben den Oberkörper gewaschen, und gerade will ich ihr ein frisches Hemd anziehen, da geht die Schiebetür auf und zwei Chirurgen wollen ins Zimmer, um zu gucken, wie es der Frau geht. Ich stelle mich den beiden Männern in den Weg.
«Moment mal eben, Frau Yildiz hat gerade kein Hemd an.» Die Herren gucken konsterniert, ich mache die Tür zu und lasse die beiden davor stehen. Frau Yildiz zwinkert mir freundlich zu, und als sie das Hemd anhat, mache ich die Tür wieder auf.
«So, jetzt können Sie reinkommen.»
Ich ernte einen bornierten Seitenblick. Mir ist das egal. Ich kann es nicht leiden, wenn die ohnehin kaum vorhandene Intimsphäre der Patienten zugunsten einer ruckzuck durchgeführten Visite flöten geht. Die Chirurgen gucken sich den Bauch von Frau Yildiz an, erklären, dass alles gutgegangen ist, dass sie heute Vormittag auf die Normalstation verlegt wird, und gehen wieder.
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