Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
sodass die notwendige innere Ruhe, die für das Einschlafenkönnen vonnöten ist, nicht sofort nach dem Betreten der Wohnung parat steht.
Und auch wenn ich einen freien Tag gehabt habe, schaffe ich es nicht, frühzeitig schlafen zu gehen. «Früh schlafen gehen» hieße etwa elf Uhr, und ich bin in den seltensten Fällen um elf Uhr abends müde. Logischerweise heißt das also, dass ich mich zur Müdigkeit zwingen muss, was die denkbar schlechteste Voraussetzung für eine erholsame Nacht ist, und in dem Wissen, dass mir nur fünf Stunden Schlaf vergönnt sein werden, fordere ich in einer beispiellosen Verbissenheit den notwendigen Ruhezustand ein, der so selbstverständlich nicht eintritt, vor allem wenn die Gedanken unablässig darum kreisen. Und so bin ich am Abend vor einem Frühdienst glockenwach, sobald mich die Dunkelheit umgibt. Es ist ein ekelhaftes Phänomen.
Vor mir liegen fünf Stunden Herumgewälze von links nach rechts und wieder zurück. In dieser Zeit male ich mir in den schillerndsten Farben aus, was in wenigen Stunden auf mich zukommen könnte, und so muss jeder Versuch, das Gehirn in eine Stand-by-Funktion zu bringen, scheitern. Die Vermutung liegt nahe, dass ich vor dem Frühdienst eine Tiefschlafphase von höchstens zehn Minuten habe, ansonsten döse ich vor mich hin, bin wach oder gucke auf die Uhr. Und eine Stunde, bevor ich aufstehen muss, schlafe ich richtig fest ein, so fest, dass der Ruf des Radioweckers mir vorkommt, als würde in meinem Zimmer direkt vor meinem Bett eine Band live spielen, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann. Dann ist es endlich halb fünf, der Tag beginnt und es gibt so viel zu tun!
Wenn das Sprichwort «Morgenstund hat Gold im Mund» das Frühstück meint, dann gilt dieses auf gar keinen Fall für mich, denn schon beim bloßen Gedanken an Nahrungsaufnahme verschließt sich bei mir solide der Kehldeckel. Dabei wäre eine gute Basis im Hinblick auf die vor mir liegenden Anstrengungen durchaus von Bedeutung, die bereits in der Dusche anfangen, wo mir Shampoo in die Augen gerät und ich mir fünf Minuten später den kleinen Zeh am Türrahmen stoße. In der Küche verschütte ich den Kaffee, manchmal ist die Milch sauer und es schwimmen lauter eklige denaturierte Eiweißklümpchen im Kaffee umher. Alles, was schiefgehen kann, passiert zu dieser Unzeit!
Mit einem schalen Gefühl im Magen und Jahresringen unter den Augen, die jeden Botaniker begeistern würden, verlasse ich prinzipiell frustriert das Haus, und spätestens wenn ich auf dem Fahrrad sitze, habe ich das sichere Gefühl: Aus der Nummer kommst du jetzt nicht mehr heraus!
Im Sommer ist es schon hell, das kann mich manchmal kurzfristig aufbauen. Aber wehe, es ist herbstlich dunkel, kalt und regnerisch! Sofort macht sich eine fatale Mischung aus Depression und Bockigkeit in mir breit, die ihresgleichen sucht. Ich will sofort wieder in meine Wohnung, ich will nicht auf die Station, ich will einfach nicht! Aus diesem Grund ist die Notiz auf meinem Wunschdienstplan, den es glücklicherweise noch gibt, obligat: «Bitte nur einen Frühdienst!» Und zunehmend: «Bitte keinen Frühdienst!»
Beim Betreten der Umkleide ist meine Stimmung auf dem Tiefpunkt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, weil mich meine Kollegen bereits bemerkt haben. Mit kleinen, dicken Augen grinsen wir uns an; alle wissen um mein Unvermögen, dem Frühdienst irgendetwas Positives abzugewinnen, und quittieren dies höhnisch. «Na, du bist ja früh dran!» oder «Oh, machst du heute was für die Schichtzulage?»
Vor kurzem habe ich in der Umkleide ein schönes T-Shirt zu Gesicht bekommen: In großen Lettern war darauf «Der frühe Vogel kann mich mal!» gedruckt. Selten bin ich mit so offenkundiger Wahrheit konfrontiert worden!
Mein Erscheinen auf der Station ist ein von Häme begleiteter Spießroutenlauf und das Gefeixe in der Umkleide nur das Intro. Ich muss ein belustigendes Bild abgeben, zerzaust, zerknautscht und missgestimmt. Hundemüde hängen die Nachtschichtler in den Bürostühlen am Hauptarbeitsplatz und freuen sich auf den Feierabend. Es steht ein Glas mit ein paar Salzstangen herum, kleine Überreste der nächtlichen Nahrungszufuhr, die im Verlauf des Frühdienstes von den Kollegen als willkommener Snack weggeknuspert werden.
Wir sind zu sechst, und außer mir hatte niemand am Vortag Spätdienst. Überhaupt scheint den anderen der Arbeitsbeginn um diese Uhrzeit überhaupt nichts auszumachen; sie sind zwar müde, aber ansonsten gut
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