Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
unhöflich werden! Ich bemühe mich, freundlich zu klingen, als ich der zu Recht aufgeregten Frau versuche, die Lage zu erklären. «Hier ist seit Stunden der Teufel los, wir haben einen Notfall nach dem anderen, und Notfälle haben Vorrang. Momentan hat niemand Zeit für Kreuzfahrtbescheinigungen, ich schreibe das sofort auf einen Zettel und hefte ihn als Notiz an die Kurve, dann können Sie die Bescheinigung spätestens morgen mitnehmen, einverstanden?»
«Aber das Schiff fährt doch morgen!», gerät die Dame zusehends in Panik. Und dann kommt sie erst heute damit an und hält mich inmitten dieses Trubels auf? Ich bin sprachlos und weiß nun, dass ich die Dame nicht mehr loswerde, außer ich erfülle sofort ihren Wunsch. Also laufe ich mit einem knappen «Warten Sie mal!» zum Hauptarbeitsplatz. Es ist ein klassischer Fall von Überforderung, wenn es irgendwann nicht mehr gelingt, Prioritäten zu setzen, und man sich von solchen Peanuts in die Irre leiten lässt. Hektisch suche ich diesen vermaledeiten Bescheinigungsvordruck, den ich natürlich nicht sofort finde. Ich könnte das ganze Zettelregal auseinanderreißen und durch die Gegend werfen, besonders, weil die Tante mir auch noch hinterhergedackelt kommt und in extenso erörtert, warum ihr das nun in den letzten Tagen entfallen war, ja, ja, ja, schon gut, selbstverständlich hat die freundliche Schwester auch dafür Verständnis, ach, die schöne Kreuzfahrt, scheiß doch drauf, wo ist denn jetzt dieser drecksverdammte Vordruck, « … aber wenn er wieder gesund ist, dann holen wir das nach …» Schnauze!
«Dein Patient kommt gleich», ruft der Giftzwerg um die Ecke, «ziemlich instabil, wenn die oben im OP fertig sind, ist er als Nächster dran, Erythrozytenkonzentrate sind bestellt, ich helf dir beim Anschließen.» Und sie rennt weiter in mein Zimmer. Ich habe just den Vordruck gefunden, knalle den Klinikstempel darauf und kritzele eine Notiz auf ein Zettelchen – «Bitte ausfüllen!» –, renne an der Frau vorbei in das Zimmer des Mannes, der nun die Kreuzfahrt verpasst, und von da aus weiter Richtung Gerätelager, das Absaugdingsbums holen. Und schon kommt mir die Eule mit dem beatmeten Patienten entgegen. Wir schließen den Mann an das Beatmungsgerät an, spannen die Medikamente in die Spritzenpumpen ein und beäugen argwöhnisch den Monitor – Herzrhythmusstörungen übelster Art präsentieren sich uns. Die Eule ist auch schon völlig erledigt; alle sind völlig erledigt. Ich will Schokolade! Ohne zu würfeln!
Am PC fordere ich die Laborwerte an, die wir für die Operation brauchen. Auch der Star hängt völlig in den Seilen, lehnt ihren Kopf an meine Schulter, linst gestresst zur Uhr und seufzt: «Noch dreißig Minuten, dann ist Feierabend!»
Das ist der schönste Satz, den ich heute gehört habe. Die Bilanz dieses Tages: ein Toter, zwei schwerstkranke Menschen, bei denen noch niemand sagen kann, wie sich all das in den nächsten vierundzwanzig Stunden entwickeln wird, und mindestens zehn Männer und Frauen, die notdürftig versorgt wurden. Die Gesamtlaufstrecke der einzelnen Kollegen dürfte etwa zehn Kilometer betragen haben, der Wasserverlust mehrere Liter, und das Denkvermögen ist auf dem Niveau einer Amöbe.
Trotzdem finden der Star und ich die Kneipe wieder, um uns einen riesigen Thunfischsalat mit Oliven einzuverleiben und diesen mit zwei großen Weizen hinunterzuspülen. Am nächsten Tag erfahren wir, dass Herr Rot am Vormittag gestorben ist, genau wie meine letzte Neuaufnahme kurz vor Feierabend.
In einer amerikanischen Studie ließen Forscher ihre Probanden in einer längerfristigen Versuchsreihe mehrere Tage lang nur vier Stunden schlafen. Das Ergebnis: Ein regelmäßiges Schlafdefizit lässt uns schneller altern. Der Cortisolspiegel, ein Hormon der Nebennierenrinde, stieg an, und die Glucosetoleranz verschlechterte sich. Dadurch, dass sich das Gehirn zu sonst normaler Schlafenszeit permanent im Bereitschaftsmodus befindet, kommt es außerdem zu erheblichen Blutdruckschwankungen und sogar Herzrhythmusstörungen. Und nachdem mir eine Kollegin von einer Untersuchung erzählte, der zufolge Schichtarbeiter im Durchschnitt zehn Jahre weniger leben als die Menschen mit den «nine-to-five»-Jobs, finde ich mehr und mehr Gefallen an der Idee, entsprechend zehn Jahre früher in die Rente zu gehen. Die Frage, ob ich mir das leisten kann, ist ohne ein leises Zögern zu verneinen. Nachtdienste sind also mit Vorsicht zu genießen.
Der
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