Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Grunwald
Vom Netzwerk:
Sechs – und so reißt man sich ständig Mütze und Handschuhe ab und kommt und kommt nicht an die verdammte Schokolade …
    Auch den Angehörigen bleibt diese Vermummungsaktion leider nicht erspart. Die meisten reagieren entsetzt darauf, weil sie das Problem mit resistenten Keimen in den Medien bereits verfolgt haben und sich große Sorgen machen. Manche entledigen sich trotz umfassender Erklärung nach und nach dieser lästigen Kluft, ziehen die Handschuhe aus, nehmen die Haube ab oder stehen im kompletten Ornat auf dem Flur und lehnen sich lässig an den Tresen des Hauptarbeitsplatzes, weil sie «mal eben was fragen» wollen. So kann man gleich rennen und den Putzwagen holen, um den Tresen zu desinfizieren.
    Nein, die Pflege im Isolierzimmer zu organisieren ist kein Spaß.
    Als ich anderntags die Station betrete, ist das Wägelchen mit den ganzen Schutzklamotten jedoch weg, und bis auf zwei Putzfrauen, die komplett vermummt und schwitzend vom Boden bis zur Decke den ganzen Raum putzen, ist das Zimmer leer. Alle Einrichtungsgegenstände liegen fein säuberlich auseinandergebaut und nass vom Desinfektionsmittel zum Trocknen auf der Fensterbank.
    Ich bin in Sorge: Ist Herr Rot etwa gestorben?
    Doch zum Glück liegt er nun in einem Einzelzimmer. Es sieht so aus, als hätte ich so lange Leerlauf, bis die Einzelteile auf der Fensterbank getrocknet sind. Dann muss ich puzzeln und die Schubladen mit Spritzen, Verbandmaterial und Mundpflegeartikeln und dergleichen mehr auffüllen.
    Der Star betreut Herrn Rot, und in der Schutzbekleidung schwitzt sie wie der Teufel in der Hölle, denn obwohl draußen sonniger Frühsommer herrscht, ist die Klimaanlage augenscheinlich noch auf Winter eingestellt. Aber auch sonst scheint alles im Zimmer auf «Hölle» geeicht zu sein: Der Hämofilter hat den Geist aufgegeben, im Rahmen des Leberversagens von Herrn Rot quittiert auch die Blutgerinnung ihren Dienst, sodass der Patient aus allen Knopflöchern blutet, sein Kreislauf ist instabil und sein Herz schlägt unregelmäßig – Herr Rot ist Mitte dreißig, und so wie es aussieht, wird Herr Rot mit Mitte dreißig sterben.
    Es ist ein unheimliches Gefühl, wenn etwa gleichaltrige Menschen dem Tod näher sind als dem Leben. Die Bohnenstange hat mal gesagt, die Einschläge kämen näher, und genau so fühlt es sich auch an: erschütternd.
    Um das zu überwinden, ist ein gemeinsamer Kneipenbesuch nach Dienstschluss unumgänglich.
    Die Tatsache, dass im Nachbarzimmer noch zwei ältere Herren liegen, die ebenfalls vom Star versorgt werden sollen, lässt diesen Dienst schon eine halbe Stunde nach Beginn zu einer Tortur werden, denn der Star kommt überhaupt nicht aus dem Zimmer von Herrn Rot heraus. Ich kümmere mich um die beiden Männer, die beide am Vortag ihre Bypässe bekommen haben und noch «ein bisschen schwach auf der Brust» sind, wie mir einer der beiden zu verstehen gibt. Beide müssen Atemtraining machen, was sie zwar anstrengend finden, sich aber große Mühe geben. Ich verteile Medikamente, notiere alle Werte auf der Kurve, und dann höre ich den Star nach einem neuen Hämofilter rufen. Gerade habe ich die ganzen Schlauchsegmente und die Filterkartusche aus dem Lager geholt, als jemand aus der Ecke mit den frisch operierten Herzpatienten «Anästhesie, sofort!!!» brüllt, und so schmeiße ich meinen Kram auf den Tisch, zerre den Notfallwagen mit den Medikamenten aus der Ecke und jogge im lässigen Aufwärmtempo zum Ort des Geschehens. Ich hoffe, der Tag geht schnell vorüber. Die Krux dabei: Er hat gerade erst angefangen.
    In der Tat wird der Nachmittag immer turbulenter, nirgendwo herrscht Ruhe und Ordnung, und mittendrin stehen die irritierten Angehörigen, die die ganze Hektik zwar erfassen, aber auf Informationsgespräche mit uns oder den Ärzten verzichten müssen. Sie bekommen von uns mehr Fahrtwind mit als Gesicht. Selbst die Visite geht nicht ungestört über die Bühne; ständig rennt irgendwer irgendwohin, und kaum hat es sich in einer Ecke etwas beruhigt, geht es in der nächsten rund. Alle schwitzen, alles wird irgendwie angefangen und muss sofort wieder liegen gelassen werden, weil noch etwas viel Akuteres dazwischenkommt. Es ist schwerlich möglich, den Überblick zu behalten. Die Türklingel geht unaufhörlich, das Telefon klingelt ohne Unterlass, Kollegen rufen, und mit der Zeit kommen einem die Signale zunehmend hämischer vor, denn sie verdeutlichen: «Du bist zu langsam!» Ein solcher Dienst ist nicht nur

Weitere Kostenlose Bücher