Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
Wir manövrieren es vorsichtig am Defibrillator vorbei, fahren zur Stationstür und drücken den Türöffner, fahren weiter durch den dunklen schmucklosen Klinikflur, vorbei an der stockfinsteren Cafeteria in Richtung Pathologie. Es ist ganz still, man hört nur das Rollen der Räder. Die Bohnenstange kramt den Schlüssel aus seiner Kitteltasche und schließt die Tür auf. Es riecht immer ein bisschen seltsam hier, eine Note Kloduftstein schwebt in der Luft. Und vielleicht liegt es an dem dezenten Grusel, der einem gerade um die Uhrzeit im Nacken sitzt, sodass man glaubt, es rieche auch förmlich nach Tod.
Geschäftig starten wir nun den Transfer von Frau Köhlers totem Körper aus dem Bett auf die Bahre: Wir öffnen die dicke und schwere Metalltür des Kühlraumes und holen die Bahre heraus. Wenn man um die Ecke schaut, kann man all die anderen Toten sehen. Die Bahre wird auf ihren kleinen Rädchen ratternd auf ein fahrbares Gestell gefahren, das wir neben das Bett von Frau Köhler lenken. Wir sagen beide nichts und wollen hier so schnell wie möglich wieder hinaus. Wir wickeln das Laken um den toten Körper von Frau Köhler und versuchen, ihn auf die Bahre zu schieben. Das ist gar nicht so einfach, denn Frau Köhler kann ja nun leider nicht mithelfen, und so erscheint sie uns trotz ihrer Zierlichkeit schwer wie ein 150-Kilo-Koloss. Auf einmal fährt das Bett ein Stück zur Seite, und Frau Köhler rauscht uns beinahe auf den gefliesten Boden.
«Scheiße!», flucht die Bohnenstange, «wir haben das Bett nicht festgestellt!»
Und nun liegt Frau Köhler exakt zwischen Bett und Bahre, dazwischen etwa 30 Zentimeter Abstand. Ihr Arm ist aus dem Laken gerutscht und hängt somit fest. Die Bohnenstange stabilisiert das Bett mit seinem Körper, während ich die Bremse feststelle, dann lehne ich mich quer über die tote Frau Köhler und angle ihren Arm aus der Lücke. Dann höre ich unterdrücktes Gelächter. Als ich hochgucke, sehe ich die Bohnenstange mit hochrotem Kopf und verzerrtem Gesicht neben dem Bett stehen. «Ey, jetzt fass mal mit an hier, die ist schwer», kichere ich, und die Bohnenstange prustet los.
«Hahaha, was sind wir für Idioten!»
Wir drehen Frau Köhler auf die Seite, ich ziehe am Laken, und da gleitet sie endlich und fast von alleine hinüber auf die Bahre. Mit hängenden Armen stehe ich da und gucke die Bohnenstange an, der sich vor Lachen fast krümmt. Mitten in der Nacht rauscht uns in der Pathologie fast eine Leiche zu Boden, und wäre sie wirklich gefallen, hätten wir sie mit Sicherheit niemals alleine auf die Bahre bugsieren können. Grinsend rollen wir die Bahre mit Frau Köhler in die Kühlbox und schließen die Tür, während sich die Bohnenstange die Lachtränen aus den Augen wischt.
Irgendwann tritt in fast jedem Nachtdienst ein Phänomen in Erscheinung: Man fängt an, sich über jeden noch so gottserbärmlichen Kleinkram kaputtzulachen.
Ich will jetzt sofort hier raus, und so löschen wir das Licht, schließen die Tür ab und gehen zurück auf die Station. Dort erzählen wir von unserem kleinen Zwischenfall. Der Giftzwerg winkt lässig ab, denn ihr ist wenige Wochen zuvor die Bahre vom Fahrgestell gerutscht. Und der Tote hing mit den Beinen bereits in der Kühlbox. Sie musste ihn mit einem Rettungsgriff herausziehen – zu zweit wäre es nicht gegangen, weil die Türöffnung so schmal ist.
Als ich etwa gegen halb sieben beim Bäcker stehe, muss ich mich zusammenreißen, um nicht vor Müdigkeit mit dem Kopf auf die Theke zu knallen. Der Schreck in der Pathologie hat fast all meine Reserven vertilgt, die ich eigentlich für den Weg nach Hause brauche. Vor mir stehen drei Rentner, die bereits in den frühen Morgenstunden auf den Beinen sind, um Backwaren für das gesamte Wochenende zu organisieren, und sich jeden einzelnen Posten erklären lassen.
Wofür sich die Frühaufsteher im Einzelnen entscheiden, kann ich gar nicht sagen, weil mir das eine oder andere Sekundenschläfchen die Festplatte leerfegt. Als ich meine Brötchentüte entgegennehme, kann ich mich schon nicht mehr daran erinnern, für welche Sorten ich mich entschieden habe, und freue mich auf die Überraschung zu Hause. Der Autopilot in meinem Kopf geleitet mich sicher dorthin. Ich esse ein Croissant, und die Katze beschäftigt sich mit den Krümeln.
Kurz bevor ich einschlafe, fällt mir wieder Frau Köhler ein.
Es ist sonderbar, dass mich ausgerechnet der Gedanke «Ruhe sanft» in den Schlaf wiegt.
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