Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
Beide wirken nicht gequält oder gestresst, und die Narkoseausleitung wird noch eine Herausforderung für sie werden, zumal sie nicht nur eine Operation hatten, sondern auch noch den Notfalleingriff über sich ergehen lassen mussten.
Die Bohnenstange hat eine Super-Idee: Wir spielen Stadt-Land-Fluss-Krankheiten-Medikamente und machen es uns in unserer Ecke auf den Bürostühlen einigermaßen gemütlich. Günstig positioniert steht die Schale mit den Schokoladenkeksen zwischen den Computerbildschirmen und dem Überwachungsmonitor, über den die EKG -Kurven der Patienten flirren.
Der Giftzwerg sagt «A!», die Bohnenstange sagt «Stopp!».
«H!», sagt der Giftzwerg, und die Schreiberei geht los.
Hamburg, Honduras, Hwangho, ha!, der Gelbe Fluss, weiß ich noch aus dem Erdkundeunterricht. Das wird mir mindestens zehn Punkte einbringen, hm, Krankheit, ach, ich nehme Husten. Das Medikament ist einfach, denn wir sitzen direkt gegenüber den deutlich beschrifteten Medikamentenschubladen. Ich sehe aus dem Augenwinkel, dass die beiden ebenfalls hinüberlinsen. Dann rufe ich «Fertig!».
«Mist», flucht die Bohnenstange und lässt den Kugelschreiber fallen, «ich kann die blöden Flüsse nicht!»
Hamburg haben alle, Holland, Klasse, zehn Punkte, denn Honduras habe nur ich, und die Rechnung mit dem Gelben Fluss ist auch aufgegangen, der Giftzwerg hat die Hunte genommen, und die Bohnenstange wusste ja nichts. Husten ist natürlich etwas profan, von einer Intensivschwester könnte man mehr erwarten, die Bohnenstange punktet mit Herzinfarkt, der Giftzwerg mit Hodenhochstand. Merkwürdigerweise haben wir alle Haloperidol von der Arzneimittelschublade abgeschrieben. Wir mühen uns durch das halbe Alphabet, unterbrochen von kurzen Pausen für die Kurveneintragungen und einmal Umlagern bei einer Frau, die vom Giftzwerg betreut wird.
Zwischendurch kommt die Eule dazu; mitspielen will sie nicht, wohl aber vorsagen. Das kommt uns bei den Krankheiten und Medikamenten gut gelegen, auch wenn wir dann fast alle dasselbe schreiben. Eine Krankheit mit X? «Xanthom», flüstert die Eule, aber da hat der Giftzwerg schon «x-mal kotzen» geschrieben, ruft «Stopp, fertig!» und sahnt dafür auch noch zwanzig Punkte ab, denn die Bohnenstange und ich haben viel zu viel Zeit mit der Fragestellung verplempert, wie man denn Xanthom eigentlich schreibt.
Wir strecken uns, sind müde. Auf einmal alarmiert es vom Bettplatz von Frau Köhler. Die Bohnenstange und die Eule stehen auf und gucken auf den Monitor. Frau Köhler hat nur noch eine Herzfrequenz von 20.
«Jetzt macht sie sich auf die Reise», flüstert die Bohnenstange. Er schaut Frau Köhler an; sie schnappt mehr nach Luft als dass sie atmet, ihr Herzschlag wird unregelmäßig, lange Pausen wechseln sich ab mit ein paar wenigen sichtbaren Ausschlägen. Und so sitzt die Bohnenstange auf einem Hocker neben Frau Köhlers Bett und wartet mit ihr auf den Tod.
Nachdem ich bei Herrn Fuchs und Herrn Gerken vorsichtig eine kleine, aber sorgfältige Mundpflege durchgeführt und sie beide noch einmal kurz mit der Hilfe vom Giftzwerg auf die Seite gedreht habe, um zu gucken, ob die Haut am Rücken und Gesäß noch intakt ist, bin ich mit meiner Arbeit fertig.
In der Zwischenzeit ist Frau Köhler gestorben. Die Bohnenstange fängt an, sie von den venösen Zugängen zu befreien. Ich helfe mit, denn einen toten Menschen alleine zu versorgen, finde ich persönlich nicht schön. Man muss nicht zwingend sprechen, aber es ist trotzdem angenehmer so, und den meisten Kollegen geht es ähnlich. Es ist immer etwas eigenartig, eine Person, die wenige Minuten zuvor noch am Leben war, plötzlich als «tot» zu erleben. Der Körper ist noch warm und schlaff, fühlt sich aber durch die Wärme lebendig an. Manchmal sind die Augen halb geöffnet; dann fühle ich mich beobachtet. Manche Toten haben durch die Muskelerschlaffung Stuhlgang oder furzen, manchen entweicht ein Geräusch aus dem Mund, wenn man sie auf die Seite dreht, weil die Luft aus den Lungen entweicht. Und obwohl ich mir all das erklären kann, ist es mir unheimlich. Ich frage mich manchmal, wo dieser Mensch denn nun ist, ich sehe ja nur die «Hülle». Wo aber ist der Wille, die Ideen und all das, was diese Person ausgemacht hat?
Die Eule hat mit dem Sohn von Frau Köhler telefoniert. Kommen will die Familie nicht nochmal, deshalb ziehen wir Frau Köhler ein frisches Hemd an und schieben das Bett aus dem Zimmer, um sie in die Pathologie zu fahren.
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