Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Grunwald
Vom Netzwerk:
eine immense Herausforderung, er bietet auch eine Vielzahl von Gefahren, denn in all der Eile lässt die Aufmerksamkeit nach, sodass man sich die Kanüle beim hektischen Aufziehen von Notfallmedikamenten in die Finger sticht oder jemandem versehentlich die fahrbare Beatmungseinheit über die Füße fährt. Die Nerven sind zum Zerreißen gespannt, der Geduldsfaden deutlich überstrapaziert, und ab einem gewissen Zeitpunkt ist kaum mehr jemand imstande, sortiert und umsichtig zu handeln, sodass es sich anfühlt, als würden sich sechs total verschiedene Charaktere ein Gehirn teilen.
     
    Nachdem ich zweieinhalb Stunden später bereits den zweiten Filter für den Star aufgebaut habe, der erste Herzpatient zurück in den OP gefahren wurde, auf dessen Bett Frau Anzug kniend bei voller Fahrt die Druckmassage fortführte und gleichzeitig wie angewurzelt mitten im Weg stehende Angehörige anbrüllte – «Aus dem Weg!!!! Sofort!!!» –, muss ich erkennen, dass das erst der Anpfiff zum großen Tumult war: Zwei weitere Patienten müssen reanimiert werden, und einer der beiden Herren, die vom Star und mir im Wechsel betreut werden, hat plötzlich, von dem Getöse verwirrt, sein Bett verlassen und sich furchtbar in all den Kabeln verheddert. Nachdem ich dem Mann ins Bett zurückgeholfen und ihm ein Malzbier kredenzt habe, renne ich sofort wieder hinaus und helfe den reanimierenden Kollegen beim Medikamenteaufziehen und bereite eine stattliche Anzahl Spritzen für eine ausreichende Bevorratung vor. Und während ich sie mit Präparatenamen, Datum und Uhrzeit beschrifte, fällt mir blitzartig und siedendheiß ein: Mein Zimmer! Da steht und liegt noch alles genauso herum wie zu Beginn der Schicht!
    Auf dem Flur kommt mir völlig verschwitzt und erledigt der Star entgegen und leert eine Flasche Wasser fast komplett in einem Zug.
    «Ich muss unbedingt mal raus und eine rauchen», fleht sie, und ich schiebe die Ärmste Richtung Tür, wo sie fast mit der Eule zusammenprallt, die zu einem Notfall in der Ambulanz rennt.
    Das Chaos im Hinterkopf und die Alarmtöne im Ohr, gehe ich in mein Zimmer und weiß nicht, wo ich zuerst anfangen soll. Zumindest ist es deutlich ruhiger hier, die Geräuschkulisse vom Flur ist etwas gedämpft, was sich fast ein bisschen erholsam ausnimmt. Prompt fällt mir scheppernd die Halterung für das Händedesinfektionsmittel aus den Händen, und ich bin plötzlich schrecklich müde und froh, dass ich mich hier einen Moment zurückziehen kann. Ich fülle Spritzen in Schubladen, sortiere Verbandmaterial, Pflaster und EKG -Elektroden, als auf einmal der Giftzwerg atemlos im Türrahmen steht und grinsend sagt: «In der Ambulanz ist ein reanimierter Patient im kardiogenen Schock, der kommt erst mal ins Herzkatheterlabor, und wenn der nicht gleich von da aus in den OP kommt, dann muss der hierhin!» So schnell, wie der Giftzwerg aufgetaucht ist, ist sie auch schon wieder weg, um ein Bett zu organisieren und es mit der Beatmungseinheit ins Katheterlabor zu fahren. Falls der Patient sofort in den OP gebracht wird, kommt er erst im Nachtdienst auf unsere Station, und wenn nicht, dann trägt er noch im Spätdienst zum allgegenwärtigen Chaos bei und komplettiert das Bild einer aus den Fugen geratenen Intensivstation.
    Als ich kurz in das Gerätelager verschwinden will, um ein Einzelteil für das Absauggerät zu holen, springt mir eine fremde Frau förmlich vor die Füße. Ungeachtet der Eile, die mir sicherlich ins Gesicht geschrieben steht, schwappt es sofort hektisch aus ihr heraus: «Schwester!Ichbrauchedringendeinebescheinigungfürmeinenmannwirhabeneinekreuzfahrtgebuchtunddiekönnenwirjanungarnichtmachenunddafürbraucheichdiebescheinigungdamitunsderveranstalterdasgeldzurückgibt!»
    Obwohl all das nicht unbedingt nach einem Notfall klingt, ist die Frau nicht zu bremsen. Sie holt noch einmal tief Luft, bevor sie die nächste Attacke startet: «… unddannwollteichnochdenarztsprechenmeinmannhatjaimmernochfieberundkeinerkommtundsogehtdasjanunauchnichtunddiebescheinigungisttigdasistjateuersoeinekreuzfahrtquerdurchsmittelmeer …»
    «So», würge ich sie ab und hole auch mal tief Luft, «ich komme sofort zu Ihnen, aber vorher muss ich …»
    Die Frau keift dazwischen: «Ich warte jetzt schon eine Stunde auf den Arzt und keiner kommt, der Pfleger ist auch ständig weg, unmöglich!»
    In mir beginnt ein kleines Feuer zu brodeln, das ich noch, wenn auch unter größter Mühe, im Zaum halten kann. Jetzt bloß nicht

Weitere Kostenlose Bücher