Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
durchwachten und belastenden Nacht und immer noch körperlich geschwächt für zwei Stunden in den Sessel zu setzen ist gut gemeint, aber profitiert hat Frau Dietrich nicht davon. Trotzdem nimmt sich der ganze Aufwand auf dem Kurvenblatt imponierend aus: «Hilfe beim Aufstehen, Assistenz beim Transfer in den Sessel», das ist anstrengend und zeitaufwendig. Der Putzteufel hat Angst, faul und desinteressiert zu erscheinen, sodass sie verbissen ihr Programm herunterspult und nach dem Dienst nicht mehr weiß, wo oben und unten ist – und den Patienten geht es oft ähnlich.
Die viel belachte Devise «Viel hilft viel» ist allem Spott zum Trotz ein wesentlicher Bestandteil der Pflege, und sowohl theoretisch als auch praktisch ist dieses Feld von zahlreichen bösartigen kleinen Fuchseisen und Finten durchsetzt. Einer der beliebtesten Standardsätze lautet «Das ging aber ganz gut», und er fällt meistens dann, wenn die Aktionen allen Grund zum Zweifeln bieten.
Herr Karamoglu braucht seine Trachealkanüle noch, die er anstelle des Beatmungstubus bekommen hat, weil ihm die notwendige Kraft fehlt, die Unmengen an Schleim hochzuhusten, die sich in seinen Bronchien befinden. Trotzdem versucht die Eiferin einen Schluckversuch bei Herrn Karamoglu. Wenn er sich nicht verschluckt, kann er auch bald wieder feste Nahrung zu sich nehmen. Für den Schluckversuch wählt die Eiferin nicht etwa Kartoffelbrei oder Ähnliches – nein, die Eiferin nimmt Joghurt. Grundsätzlich gut ist das Ansinnen, etwas «Festeres» als Wasser zu verwenden, weil Wasser auf jeden Fall zügiger in die Luftröhre geraten kann als ein sämiger Joghurt, den man auf dem Weg in die falsche Richtung notfalls noch absaugen kann. Allen Milchprodukten aber ist eines zu eigen: Sie produzieren Schleim. Kein Sänger würde beispielsweise vor seinem Auftritt ein Glas Milch trinken, es sei denn, er möchte schleimgurgelnd herumknödeln und damit die Opernabonnenten vergrätzen.
Eine Stunde später haben Herr Karamoglu und ich den Salat: Massen von Schleim muss ich dem armen Mann in viertelstündigen Abständen aus der Kanüle saugen.
Das ging aber ganz gut.
Ebenfalls Verwendung findet dieser Satz bei Mobilisierungsversuchen von Patienten, die im Grunde schon im Ruhezustand grenzwertige Blutdrucke oder Sauerstoffsättigungen aufweisen. Anschließend wird sich darüber gewundert, dass sich der Zustand eines Patienten nach einer Mobilisation auf die Bettkante oder gar auf einen Stuhl beachtlich verschlechtert. «Das ging aber ganz gut» bezieht sich ausschließlich darauf, dass der Patient mühelos aufgestanden ist – die Folgen dieses Tuns stehen anschließend lediglich auf dem Kurvenblatt, auf dem eine erneute Intubation und Beatmung des Patienten dokumentiert wird.
Einer der Gründe für diese Hauruck-Aktionen ist sicherlich die ungenügende «Lob-Kultur». Es fehlt zunehmend die Ermutigung durch Schichtleitung, Pflegeleitung und auch durch Kollegen.
Hat ein Mensch auf der Bettkante gesessen, kommt später vielleicht die Eiferin daher und sagt: «Eine halbe Stunde im Sessel hätte ihm sicher auch gutgetan!», und schon ist alles wieder vernichtet. Der rote Faden, der bereits in der Fachausbildung gesponnen wurde, zieht sich so stetig durch den Berufsalltag: Du machst es gut, aber es reicht nicht.
Oftmals sind es die Angehörigen, denen Fortschritte am ehesten auffallen. Natürlich sind auch die Ärzte zufrieden, wenn der Patient schon kleine Portionen essen oder eine Stunde im Sessel sitzen kann, ohne danach wieder intubiert werden zu müssen. Aber die Angehörigen haben eine entsetzliche Zeit der Sorge und Angst hinter sich und sind oftmals völlig perplex, wenn sie zu Besuch kommen und plötzlich sehen, dass der Lebensgefährte oder die Ehefrau bereits im Sessel sitzend auf sie wartet. Die anfangs bedrohliche Situation scheint dann hinter ihnen zu liegen, und es ist schön zu sehen, wenn im Zimmer so eine Art Kaffeekränzchen-Stimmung herrscht, wenn gelacht und geredet wird. Das zeigt uns sehr direkt, dass sich die Arbeit gelohnt hat, und ich bewerte die Freude der Angehörigen durchaus als Lob.
Unumgänglich bei der Arbeit auf einer Intensivstation ist neben allen Fachkenntnissen und Erfahrungen eine Art «elastisches Gewissen», um das vermeintlich Beste für die Patienten herauszuholen. Und genau das ist immer wieder ein Vabanque-Spiel: Schätze ich den Menschen richtig ein? Fordere ich zu viel oder zu wenig? Was möchte der Patient, und was
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