Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
auf gar keinen Fall? Ab wann nennt man das, was ich tue, Zwang, und wo ist es noch Überredungskunst?
Die Entscheidung, Frau Dietrich einen ruhigen und erholsamen Nachmittag nach einer unruhigen und schockierenden Nacht zu gönnen und sie später zu mobilisieren, war aus sportlicher Sicht wahrscheinlich regelwidrig. Aber zu sehen, dass sich die Patientin nach ihrem ausgiebigen Mittagsschlaf erholt und mit Appetit gegessen hat, ist ein ausreichender Beweis dafür, dass das Respektieren individueller Wünsche nicht nur sinnvoll, sondern wichtig ist. Der Vorteil eines «elastischen Gewissens» besteht im Wesentlichen darin, genauer darüber nachdenken zu können, was ich von den Patienten eigentlich will und daher nicht sofort organisieren muss. Ich bin sehr glücklich darüber, dass mir mein Gewissen mittlerweile nicht ab Dienstbeginn sofort in meine Planung grätscht und mit einer Stoppuhr nervt, um mir weiszumachen, dass Intensivpflege eigentlich Akkordarbeit ist.
Einerseits von der «lieben kleinen Omi» zu sprechen, sie andererseits ratzfatz aus dem Bett zu zerren, obwohl sie sich mit Händen und Füßen dagegen sträubt, kann nicht «gut» sein, sondern erfüllt lediglich das Plansoll. Und da ist eine gewisse Distanzlosigkeit gerade recht: die «Omisierung» degradiert ein Individuum zu einer Art Werkstück, mit dem man dann kraft seines Amtes machen kann, was man will.
Gerade die Eiferin ist eine von jenen, die mit alten Menschen zu sprechen pflegt, als seien sie Vierjährige und zudem stocktaub. «Wir wollen Sie nochmal auf die andere Seite drehen!», zwitschert es phonstark aus dem Zimmer über den Flur.
«Ich creme Ihnen auch nochmal eben den Popo ein!»
Wie schön – jetzt wissen alle Bescheid.
Das Problem ist, dass die Superschwester mit ihrem Fleiß und ihrem Bemühen, alles richtig zu machen, ihre Loyalität zu einem System unter Beweis stellen möchte, welches durch Missmanagement, Fehlplanungen und Überheblichkeit immer mehr einfordert: Mit immer weniger Personal sollen immer mehr Patienten versorgt werden. Das, was wir vor wenigen Jahren noch in einem angemessenen Zeitrahmen geschafft haben, wird jetzt zunehmend zu einer Art Patienten-Rallye, bei der jeder verzweifelt versucht, in einer utopischen Bestzeit alle in ein wie auch immer geartetes Ziel zu bringen, einschließlich Boxenstopp und Reifenwechsel. Je mehr der Druck von außen zunimmt, umso mehr erhöht er sich innerhalb eines pflegerischen und ärztlichen Teams, und das äußert sich in Schuldzuweisungen, Misstrauen und Geläster. Es gilt, zu jeder Zeit alles und jeden zu retten und trotz Übermüdung, Überforderung und Überlastung immer noch eine gute Idee zu haben – und niemals zu sagen: «Das geht nicht.»
Die Superschwester ist wie wir alle gefangen in einem Netz aus Verpflichtung, Loyalität und Richtigmachertum. Wir zappeln alle mehr oder weniger hilflos in den klebrigen Fäden und versuchen uns verzweifelt in Gegenwehr, was nicht immer einfach ist, denn oft müssen Sachen in großer Eile geplant, entschieden und erledigt werden. Man ist dann einfach gut beraten, einmal tief durchzuatmen und die Dinge hinzunehmen, wie sie gerade sind, und die kritische Diskussion zu führen, wenn wieder Ruhe eingekehrt ist.
Wie eine hysterische und frustrierte Drohne wirkt die Superschwester, die von allen anderen erwartet, dass sie das Gleiche wollen wie sie. Auf sicherer Schiene gleitet die Superschwester auf den Kufen der Verpflichtung rumpelnd durch den Dienstalltag, und manch einer wundert sich, dass es sie nicht schon längst aus der Kurve gehauen hat. Was die Superschwester sagt, hat Gewicht, und wer Widerspruch wagt, wird im Nachtdienst das nächste Opfer bei der dienstplangestützten Gruppennörgelei.
Ich werde mir mit den anderen dafür im Spätdienst die Hacken abrennen, die Treppen zum Labor hinauf- und wieder hinunterlaufen, wir werden gemeinsam 120 Kilo schwere Männer auf Bettkanten wuppen, um sich schlagende Frauen bändigen, Angehörige trösten und über den von ihnen mitgebrachten Kuchen jubeln, einen gerade eingelieferten Mann eine Stunde lang reanimieren und uns schließlich freuen, dass Herr Karamoglu mit seiner strahlenden Tochter problemlos fast eine ganze Schale Erdbeeren aufgegessen hat. All das werde ich im Spätdienst abarbeiten und erleben, mit genau den Kollegen, von denen die Superschwester regelmäßig behauptet, sie seien faul und machten ihre Arbeit nicht gut. Ohne diese Kollegen ginge die
Weitere Kostenlose Bücher